Namtchylak, Sainkho

Cyberia

2 CDs

Verlag/Label: Ponderosa cd 087
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 76

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 3
Gesamtwertung: 5

A cappella – nur mit der Stimme – führt Sainkho Namtchylak, 1957 in Kyzyl, der Hauptstadt der Republik Tuwa, geboren, durch die Klänge und Lieder der Landschaft in ihrer Heimatregion. Auf gleich zwei CDs stellt die außergewöhnliche Stimmakrobatin sowohl traditionelle «Songs» (CD 1) aus ihrer tuwinischen Heimat als auch mit «Suono» (Sound;?CD 2) experimentelle, mit Geräuschen aus dem Lebensumfeld verbundene Klangerfahrungen vor. Dabei gelingt es der Sängerin, mit ihrer gewaltigen, scharfen, in Fleisch und Gedanken einschneidenden Stimme die Urkraft der Steppe, deren Kargheit und oft schroffen Charakter in einer unendlichen Gesangs- und Geräuschschleife darzustellen. Es grenzt fast an übermenschliche Energie, wie Sainkho Namtchylak eine gleichbleibend hohe Spannung zu erzeugen vermag, die die traditionellen Gesänge keiner Stereotypie aussetzt und niemals den Gedanken an Langeweile aufkommen lässt. Der Spagat zwischen Althergebrachtem und modernen Tendenzen gelingt überragend gut, im avantgardistischen Gesang vollzieht sich eine Art Wiedergeburt des Traditionellen.
Cyberia besitzt zwei Bedeutungsebenen. Es steht zum einen für Sibirien und zum zweiten für den Begriff «Cyber» – ein Steuerungselement für Computer –, der bei Namtchylak als technisch-innovatives Kunst-Stück immer wieder einmal auftaucht. Was vor allem deshalb bedeutend ist, weil Sainkho Namtchylak eine leichtfertig für sie bereit gehaltenen Schublade ignoriert, indem sie in den Klangmöglichkeiten der Neuzeit genauso zu Hause ist wie in den Gesängen ihrer Vorfahren. «Alles, was ich in der Realität fühle oder sehe, wird früher oder später zu einem Song oder einer Sound-Improvisation», ließ Namtchylak auf das Cover drucken. Der Satz steht als Lebensmotto im ungeschriebenen Klangtagebuch einer Sängerin, die bereits im Kindesalter den Kehlkopf- bzw. Obertongesang khöömei begeistert inhalierte und die Besonderheiten des Lebens in Tuwa, die Gebräuche, den Schamanismus und die Musik, studierte. Die Zweiteilung der Erdkugel in eine moderne und eine «primitive», vom Fortschritt abgekoppelte Hälfte, löst Namtchylak durch ihre verbindende, tiefgreifend tolerante Sicht auf die unterschiedlichen Klanggegebenheiten aller Völker auf.
Sainkho Namtchylak singt überwiegend in ihrer Muttersprache, einige Titel interpretiert sie in Englisch. Ritualisierte Lieder in traditioneller Form zeugen von der breiten musikalischen Tradition in Tuwa, wogegen die «Sounds» auf der zweiten CD vor allem die Variationsbreite der Sängerin zeigen. Vor allem beeindruckt, wie sie etwa in Morning höömi mit breiter Energie ein Blasinstrument imitiert, wobei ihr die Kraftanstrengung fast die Luft raubt. Die menschliche Stim­me, das Kapital der Sängerin, formt Kehllaute, Schabegeräusche, Brummlaute, Wispern, Jammern, Ein-Ton-Gesang und raue, aus den Tiefen der Erinnerung heraustretende Tierlaute. Die Bandbreite – von einfachen Songs bis zu experimentellen Avantgarde-Klangstrukturen – der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten von Sainkho Namtchylak kann insbesondere auf dem Cyberia-Album auf ihren Wahr­heitsgehalt hin untersucht werden.
Klaus Hübner