Dutilleux, Henri

D’ombre et de silence

Das gesamte Klavierwerk

Verlag/Label: ECM New Series 2105 (476 3653)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Bei einem derart langsam, penibel und selbstkritisch arbeitenden Komponisten wie Henri Dutilleux nimmt es beinahe Wunder, dass sein gesamtes Klavierwerk immerhin eine CD von 75 Minuten Spieldauer füllt. Bei einem Großteil der Stücke handelt es sich allerdings um Gelegenheitswerke, zum Teil noch vor der 1948 vollendeten Klaviersonate entstanden, die Dutilleux zu seinem offiziellen Opus 1 erklärte. Doch selbst bei diesen Miniaturen ist Dutilleux ganz er selbst, indem er sie zu perfekten kleinen Diamanten schleift.
Der Pianist Robert Levin ist bei uns vor allem als Experte für Alte Musik und als Bearbeiter und Vollender von Mozarts c-Moll-Messe bekannt. Der vielseitige und undogmatische Künstler betätigt sich aber auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik. Er ging als Komponist bei Nadia Boulanger in die Lehre, durch deren Vermittlung er Dutilleux kennen lernte, mit dem ihm seitdem eine langjährige Freundschaft verbindet. Folgerichtig bedeutet ihm dessen Mu­sik eine Herzensangelegenheit. Für seine Gesamteinspielung der Klaviermusik Dutilleux’ erntete er vom Kom­ponisten großes Lob – «impéccable» –, und dies mit absoluter Berechtigung. Es gelingt ihm beispielsweise in der dreisätzigen Sonate, einen imponierenden formalen Bogen zu spannen, ohne dabei die große Vielfalt klangfarblicher und harmonischer Valeurs – die sich in den späteren Stücken nochmals steigern wird – zu vernachlässigen. Er unterschlägt nicht, dass es in diesem Werk noch Anklänge an, vor allem, französische Vorbilder gibt – etwa Ravel im ersten Satz –, arbeitet aber Dutilleux’ eigene kompositorische Physiognomie geradezu dreidimensional heraus.
Vollends faszinierend dann Levins Interpretationen des «reifen» Dutilleux – der drei Préludes sowie der Figures de résonances für zwei Klaviere, bei denen ihm die Pianistin Ya-Fei Chuang zur Seite steht. Die große Herausforderung bei diesen Stücken ist, auch noch das kleinste Molekül der stets ungewöhnlichen, aber immer in sich stimmigen Struktur zu erfassen und nichstdestoweniger die Musik wie aus dem Augenblick heraus improvisiert erklingen zu lassen – eine Herausforderung, der sich Levin stellt und dabei auf ganzer Linie gewinnt. Und auch die Frühwerke wie die Suite Au gré des ondes erkennt der Pianist in ihrem durchaus vorhandenen Eigenwert. So lässt er Dutilleux als dem großen Solitär der – nicht nur französischen – zeitgenössischen Musik Gerechtigkeit widerfahren. Levins Interpretationen dürften fortan Referenzwert für sich beanspruchen. Bleibt zu hoffen, dass der mittlerweile 94-jährige Komponist tatsächlich noch, wie angekündigt, die Figures de résonances zu einem «Catalogue de résonances» ausbauen wird.

Thomas Schulz