Assafjew, Boris

Das Buch über Strawinsky

Werkbetrachtungen und Analysen (= Reihe musik konkret, Band 19)

Verlag/Label: Ernst Kuhn, Berlin 2013, 367 Seiten, 59,95 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 90

Ein Buch über Strawinsky: 1929 in Leningrad gedruckt, alsbald verboten und aus allen Bibliotheken Sowjetrusslands entfernt – Ende der 1960er Jahre ins Englische übersetzt, doch erst 1982 in den USA veröffentlicht.
Ein entstehungsnaher Schaffens-Durchgang vom vokalen Frühwerk über die Schlachtrösser des Ballett-Repertoires bis hin zu L’Histoire du Soldat, Pulcinella und der Buffooper Mavra plus Nachschrift zu Oedipus Rex, Apollon musagète und Le Baiser de la fée – vom Komponisten am Erscheinen in der Pariser Édition russe de musique gehindert.
Eine unbefangene Apologie des künstlerischen Ingeniums, die überdies mit kleinmütigen Rezensenten abrechnet – von Strawinsky eines (von ihrem englischen Übersetzer Richard F. French erbetenen) Vorworts nicht für würdig befunden.
Essayistisch getönte Werkbetrachtungen und Überlegungen zum Musikdenken im 20. Jahrhundert – von Richard Taruskin, dem Verfasser der 1996 in Oxford erschienenen monumentalen Werkbiografie Strawinsky and the Russian Traditions, in Bausch und Bogen verrissen …
Allein die Publikationsgeschichte des Buches ist so aufregend, dass sie neugierig macht auf Buchstaben und Geist seiner zwölf Kapitel nebst Einleitung. Die mit vielen Notenbeispielen veranschaulichten Einzelbesprechungen (Le Sacre du printemps, Le Rossignol und Chant du Rossignol, Renard, Les Noces, L’Histoire du Soldat, Pulcinella, Mavra) und die hinführenden Kapitel «Der frühe Strawinsky», «Dem Neuen entgegen», «Bedeutung und Wert der Kunst Strawinskys» und «Strawinskys neuer Instrumentalstil» bestechen durch ihre Unmittelbarkeit und Frische. Entdeckerfreude, Intuition, eminenter musikalischer und literarischer Bildungshintergrund und analytischer Scharfsinn befähigen den Autor, dem jeweiligen Werk das Wesenhafte abzumerken.
Wer war der 1884 in St. Petersburg geborene Boris Assafjew, der unter dem Pseudonym Igor Glebow publizierte? In seiner Einleitung zeichnet Herausgeber Ernst Kuhn, der das Buch aus dem Russischen übersetzte, ein Lebens- und Charakterbild des Komponisten, Musikgelehrten und Kulturfunktionärs aus der Petersburger Schule Rimsky-Korsakows. Dem jungen intellektuellen Unruhegeist wurde das akademische Reglement des Konservatoriums bald zu eng. Die 1941/42 im belagerten Leningrad entworfene Autobiografie, aus der Kuhn mehrfach zitiert, gibt Aufschluss über seine Lehr- und Wanderjahre.
Nach der Revolution schlug er sich auf die Seite der kommunistischen Machthaber. In der sowjetischen Kulturpolitik spielte er eine fatale Rolle. Den Anwürfen gegen Schostakowitsch («Chaos statt Musik») pflichtete er eben­so bei wie den Reden Shdanows und den Beschlüssen des ZK. Als er im Januar 1949 starb, hatten sich fast alle Freunde von ihm abgewendet.
Dass Strawinsky ihn nicht mochte, rührt sicherlich daher. Doch störte es ihn wohl auch, dass dessen Werkdeutungen ohne lebensgeschichtliches Drumherum auskamen. Strawinsky, selbst ein beredter Chronist seines Lebens und Mittler seiner musikalischen Poetik, war allzeit besorgt um sein öffentliches Erscheinungsbild. Er zog ehrerbietige Bewunderer an sich, die den Worten des Meisters dieselbe Zeugniskraft beimaßen wie seinen Noten. Die Beflissenheit eines Robert Craft blieb Assafjew fremd. Ihn mit Nichtachtung zu strafen, stünde der Forschung nicht gut an.

Lutz Lesle