Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.)

Das Gedächtnis der Struktur

Der Komponist Pierre Boulez

Verlag/Label: Schott, Mainz 2010, Reihe «edition neue zeitschrift für musik»
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 92

Dass Pierre Boulez, der vor über vierzig Jahren die SPIEGEL-Leser mit dem Vorschlag überraschte, die Opern­häuser abzufackeln, mit einem Symposion ausgerechnet in der Alten Oper Frankfurt am Main geehrt wurde, hat den Charme einer dialektischen Volte. Es steht zugleich für die insgeheime Intention dieser Hommage in sieben Referaten, den an Zäsuren, Wenden und Wandlungen reichen Weg einer ganz und gar singulären Biografie aufzuzeigen. Sieben eindrucksvolle Fotos lassen die ungebrochene Vitalität des zum Grandseigneur Gereiften ebenso erkennen wie einen Anflug von Altersmilde, die auch den Worten des Komponisten in der Schlussdiskussion abzuspüren ist.
Ausgehend von der formal an Schönbergs Kammersymphonie geschulten Sonatine und dem omni­prä­senten Inbild Weberns skizziert Susanne Gärtner die Begegnung von Boulez mit der Zweiten Wiener Schule bis hin zur seriellen Ordnung aller Parameter der musikalischen Sprachelemente. Jörn Peter Hiekel versucht mit der Metapher der «Resonanz» der eindimensionalen Sicht auf den Schöpfer des «vielleicht strengste[n] Werk[s] der Musikgeschichte» (Structures 1a) zu begegnen und befragt – im Verbund mit Wellmer und La­chenmann – die kritisch-polemischen Stellungnahmen zu Boulez in Essays von Konrad Boehmer und Claus-Steffen Mahnkopf auf ihren Geltungsanspruch.
Gerhard R. Koch hebt auf die seit je bilateralen deutsch-französischen Musikbeziehungen ab und entwirft ein Porträt von Boulez als eines «eher cartesianischen Anti-Bohémien», der mit seinem Reform-Impetus, der Personalunion von Komponist, Dirigent und Schriftsteller sowie seinem Hang zu Deutschland in Hector Berlioz gleichsam sein historisches Alter Ego hat. Hans-Klaus Jungheinrich spürt den von Claude Lévi-Strauss aufgewiesenen Familienähnlichkeiten zwischen mythischen und musikalischen Phänomenen nach. Im Rekurs auf die Auseinandersetzung des Anthropologen mit dem seriellen Denken (Das Rohe und das Gekochte, Einleitung) apostrophiert er das Phänomen der seriellen Musik als «folgerichtiges Ergebnis einer Sternstunde der musikalischen Intelligenz oder, anders gewendet, eine heroische Sackgasse der Musikgeschichte …».
Gestützt auf unveröffentlichte Bühnenmusiken bzw. auf Projekt gebliebene Entwürfe mit explizit theatralem Kontext beleuchtet Martin Zenck das vorläufige Gesamtwerk von Pierre Boulez als Œuvre von einer «umfassenden ‹Theatralität›». In zwei profunden Studien wird Boulez als ein Mann des Theaters ausgewiesen, und das nicht erst seit seinem legendären Dirigat des Bayreuther Ring. Hartmut Lück geht der Frage nach der Beziehung Boulez – Debussy nach, die er in Boulez’ Äußerungen über Debussy, im kompositorischen Œuvre selbst und auf der Ebene der Interpretation (Boulez als Dirigent resp. Pianist) konkretisiert sieht. Geleitet von der Vorstellung einer schöpferischen Rezeption und gestützt auf Octavio Paz’ Essay «Magische Kunst» ist Cord Meijering darauf bedacht, dem Hören von Boulez’ Rituel – In memoriam Maderna Dimensionen zu erschließen, die das Werk in einem umfassenden (mythologisch, philosophisch und theologisch definierten) Sinn erfahrbar machen. Summa: Eine bemerkenswerte, vielperspektivische Hommage, die ihrem Widmungsträger rundweg zur Ehre gereicht.

Peter Becker