Spruytenburg, Robert

Das LaSalle-Quartett

Gespräche mit Walter Levin, mp3-CD

Verlag/Label: edition text + kritik, München 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 102

Walter Levin – Gründer und Kopf des LaSalle-Quartetts – ist eine intellek­tuelle Feuerseele. Als jüdischer Emigrant fand er in Palästina und Nordamerika jene Meisterlehrer und Existenzbedingungen, die ihn zum Botschafter einer neuen Geistigkeit des Streichquartettspiels werden ließen. Und zum Zeitzeugen ersten Ranges.
Allein die Namen seiner Weggefährten und der Komponisten, deren Werke das LaSalle-Quartett zum Le­ben erweckte, gleichen einem Panorama der Gattungsgeschichte, deren jüngste Blüten es ohne seine Auftrags-Initiativen nicht gäbe. Die Zahl der Aufführungen, die das in Cincinnati beheimatete Quartett – drei seiner langjährigen Mitglieder waren Emi­granten aus Hitlerdeutschland – in den vierzig Jahren seines Bestehens (1947-87) Werken des 20. Jahrhunderts widmete, ist Legion. Wie aus den beigefügten Aufführungslisten hervorgeht, spielten die «LaSalles» Weberns Sechs Bagatellen op. 9 insgesamt 243 mal, Ravels Streichquartett 199 mal, Weberns Streichquartett op. 28 125 mal, Bergs Lyrische Suite 100 mal, das (von ihnen uraufgeführte) Streichquartett von Lutoslawski 98 mal, Bartóks 3. Quartett 78 mal, Zemlinskys 4. Quartett 68 mal und Ligetis Streichquartett Nr. 2 (ebenfalls von ihnen angeregt und urauf­geführt) 58 mal. Selbst die 1980 uraufgeführten Fragmente – Stille. An Diotima von Luigi Nono brachten es auf 33 Wiederholungen. Unter den älteren Repertoirestücken hält Beethovens Große Fuge op. 133 die Spitze.
Was viel sagt über die ästhetischen Normen Levins und seiner Getreuen. Ihnen verdankt die Welt ein Jahrhundertwerk der Schallplatte, das nach vierzig Jahren immer noch im Handel ist (über Brilliant Classics, Katalognummer 9016): Neue Wiener Schule – eine Edition, die Levin der Deutschen Grammophon Gesellschaft nur mit Mühe abringen konnte.
Neugier und Forscherfleiß trieben den niederländischen, in Basel tätigen Chemie-Ingenieur und Levin-Vertrauten Robert Spruytenberg, ein mosaikartiges Selbstporträt des Künstlers zu schaffen. Mit der Leidenschaft des Liebhabers stürzte sich der Nichtmusiker in die Fundgrube des Quartett-Archivs, das die Basler Sacher-Stiftung seit 2003 verwahrt, um den ehemaligen Primarius kompetent «ausquetschen» zu können.
Wer Gelegenheit hatte, Levin an der Baseler Musikakademie oder an der Musikhochschule Lübeck unterrichtend zu erleben, den erinnern die redefrisch protokollierten Gespräche sogleich an die gestrenge, doch nie überhebliche Art seiner Arbeit mit jungen Streichquartetten, die er dazu anhielt, sich als Treuhänder, geradezu als Gewissen des Komponisten zu begreifen. «Nur ‹weil es mir so gefällt› ist kein Kriterium» – diesen Satz, Darbietungsfragen betreffend, bekam so mancher Quartett-Eleve zu hören. Problemlösungen erwachsen nicht aus Geschmacksurteilen, sondern aus Quellenstudien! Gegebenenfalls auch aus historischen Lehrschriften. Die (damals) Jungen haben es sich gemerkt: vom Alban Berg- und Brahms-Quartett über Artis, Buchberger, Vogler bis zu Artemis …
Der bebilderte Band gliedert sich in die Hauptkapitel Jugend- und Ausbildungsjahre, Geschichte des LaSalle-Quartetts, Arbeitsweise, Lehrtätigkeit, Repertoireaufbau, Auftragswerke, amerikanische Komponisten und Interpretationsfragen. Eine beigelegte mp3-CD bietet fünf Stunden O-Töne und Konzertdokumente (1951-2007).
Lutz Lesle