Vostell, Wolf

Dé-Coll/age als Manifest – Manifest als Dé-Coll/age

Manifeste, Aktionsvorträge, Essays, hg. von Klaus Gereon Beuckers und Hans-Edwin Friedrich

Verlag/Label: edition text + kritik, München 2014, 302 Seiten, 34 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 94

Die Geschichte der Künste im 20. Jahrhundert ließe sich erzählen als eine Geschichte der Manifeste. Die Futuristen haben sie verfasst, die Dadaisten und Surrealisten, die Flu­xus-Leute, die Konzeptkünstler usw. Und die Komponisten schreiben seit Schönberg bis Kreidler (und sicher auch künftig) ebenso emsig über ihre ästhetischen Positionen und Programme. «Kunst am Ort ihrer Entstehung zeigen; außerhalb der Museen und Galerien», lautet eines der ersten und ist neben dem noch markanteren «Kunst ist Leben / Leben ist Kunst» zugleich eines der kürzesten Manifeste des Aktionskünstlers und Fluxers Wolf Vostell (1932– 1998). Das erste notierte er, der das Happening für Europa erfand und schon früh akustisch-musikalische Elemente in seine Environments integrierte, 1959; das zweite ein paar Jahre später (1961 oder 1964).
Vostell, der eine Karriere vom Tafelbild-Maler und Zeichner bis zum großskulpturalen Gesamtkunstwerkler zurücklegte, der recht bald und dann fürs ganze Leben den Alltag in seine Kunst / Musik / Literatur integrierte, Hörspiele wie Buchumschläge realisierte, mit seiner Zeitschrift dé-coll/age eine zentrale Anthologie der intermedialen Künste der 1960er Jahre herausgab, for­mulierte etliche Manifeste und Essays, hielt einige Aktionsvorträge. 111 von Vostells auf Papier fixierten Wortzeugnissen haben die beiden Herausgeber, der Kunsthistoriker Klaus Gereon Beuckers und der Germanist Hans-Edwin Friedrich (beide lehren an der Universität Kiel) zusammengetragen und jedes davon ausführlich kommentiert, zeithistorisch verortet und im Vostell’schen Œuvre mit entsprechenden Querverweisen verankert.
Was die beiden nicht aufgenommen haben und was noch der Edition harrt, ist die gesammelte Wiedergabe von Vostells zahlreichen Interviews in Kunstzeitschriften wie in der Tagespresse sowie – auch mit markig-markanten Äußerungen – im Rundfunk und im Fernsehen. Das erlaubte weitere kombinatorische Rückschlüsse auf sein Kunst-Lebensdenken, darüber hinaus auf so manche noch zu bergende Idee durch die aktionistischen wie konzeptualistischen Nachfahren, die derzeit wenigstens im Musikbetrieb nach oben streben. Dieses Fehlen ist den Edi­toren nicht anzukreiden; ihr Fokus lag allein auf den Notaten, die sie um je einen eigenen sowie um vier weitere analytische Aufsätze von verschiedenen Wissenschaftlern ergänzt haben, die vor allem die literarische Seite des Künstlers behandeln, auf seine Happening-Partituren eingehen (leider fehlen hier signifikante Ab­bildungen ganz, sodass man zum erhellenden Parallel-Lesen andere Vostell-Publikationen zur Hilfe nehmen muss) und Vostells Verhältnis zum Fluxus-Papst George Maciunas oder zum «Destruction Artist» Gustav Metzger beleuchten. Die Lektüre, auch gerade die stöbernde, lohnt; sie lehrt – und das durch Primär-Quellen –, wie nahe sich die Künste einmal waren und wie man so manches derzeitige artistische Bestreben weiterdenken könnte, wenn man es denn wollte.

Stefan Fricke