Vostell, Wolf

Dé-Coll/age Musik

Remastered CD-Reissue of the Vinyl-LP originally released 1983 by Fondazione Mudim

Verlag/Label: Tochnit Aleph, TA 101
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 90

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Was außerhalb musikalischer Prozesse und Aktionen akustisch existiert, nämlich die ständige Anwesenheit der Geräusche der Natur und des Alltags in all ihren Facetten, Intensitäten und Gestalten, übte spätestens seit der Musique concrète nicht nur auf musikalisch tätige Menschen große Reize aus. Auch die bildende Kunst, und hier insbesondere in den Betätigungsfeldern Happening, Performance und Aktion, mischte sich ein, indem sie durch Künstler wie Marcel Duchamp, Joseph Beuys, Joe Jones oder Christina Kubisch akustische Phänomene und künstliche Geräusche integrierte.
Wolf Vostell (1932-98) benutzte
seit Mitte der 1950er Jahre den Begriff «Dé-coll/age» als Terminus für eine künstlerische Technik, die er aus der Übersetzung des Wortes ins Deutsche mit «ablösen, trennen, abkratzen» herleitete und zunächst auf das Abreißen von Werbeplakaten anwendete. Später fand dieses Wort Eingang in interdisziplinäre Arbeiten, die zu einem großen Teil mit Akustik in Zusammenhang stehen. Vostell umschrieb 1958 «Dé-coll/age» als «Anti-Musik», die «alle Ar­ten von Geräuschen, die vom Zerstören der Objekte herrühren», umfasst: Der Gegenstand existiert nach seiner performativen Nutzung nicht mehr als solcher.
13 akustische Beispiele beinhaltet das digitale Album Dé-Coll/Age Musik, das Andreas «Lupo» Lubisch anhand der Original-Vinyl-Veröffentlichung von 1983 einer neuen Endbearbeitung unterzogen hat. Die Quellen dieser Aufnahmen finden sich in der Zeit zwischen 1959 und 1981 in diversen Happenings, Environments, Aktionen und anderen öffentlichen Performances.
Für Fandango baute Vostell ein Environment aus vierzig Autotüren, an denen jeweils ein Elektromotor angebracht war. Jeder Motor bewegte einen Hammer, alle Hämmer klopften gleichzeitig gegen die Türen. Vostell sah in diesen Klopfgeräuschen eine «tiefverwurzelte menschliche Geste der Befreiung der Unterdrückten!». In Mailand ergänzte Vostell beim «Fandango Fluxus-Konzert» 1975 in der Galleria Multhipla seine Arbeit mit zusätzlichen Geräuschen von einem Trennschleifer und eigenem Spiel auf einer präparierten Geige. In der akustischen Montage Elektronischer dé-coll/age Happening Raum aus dem Jahr 1968 gestalteten Vostells Spielanweisungen («auf glas treten», «harke bewegt schuhe und scharrt im glas») knisternde Spannung: Sechs Fernsehgeräte treiben über Elektromotoren weitere Objekte auf einem mit Glasscherben übersäten Fußboden an.
Das Happening Der Heuwagen konzipierte Vostell 1975 für Brasilia, konnte es jedoch erst 1977 in Essen realisieren. Inspiriert wurde die Aktion durch das berühmte gleichnamige Gemälde von Hieronymus Bosch: Um ein rosafarbenes Auto herum veranstalten Studenten der Universität Essen über mehrere Stunden eine dem Leben abgeschaute Produktivität verschiedenster Couleur, braten Spiegeleier und hantieren mit diversen Gegenständen. Dazu erklingt Gitarren- und elektronisch erzeugte Musik, das Auto rollt über Stahlstangen und simuliert ein übergroßes Saiten­instrument. Dieses Happening mysti­fiziert über die Geräuschbasis hinweg den Fetisch Automobil und entmystifiziert gleichzeitig das schon zu Boschs Zeiten gepflegte Diktat der Mobilität.

Klaus Hübner