Nieder, Fabio

Der Bilderfresser

Verlag/Label: Winter & Winter 910188-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 77

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Partner für die Realisierung eines ambitionierten zeitgenössischen Musiktheaterprojekts zu finden, ist angesichts klammer Kassen im Kulturbetrieb nicht leichter geworden. Über zehn Jahre arbeitet Fabio Nieder (*1957) bereits an seiner Oper Thümmel oder die Verlöschung des Wortes; 2015 soll sie voraussichtlich in Salzburg aus der Taufe gehoben werden. Eine zentrale Szene des Werks ist Der Bilderfresser, die Nieder als Auftrag des WDR im Februar 2011 zur (konzertanten) Uraufführung bringen und nun auf CD bannen konnte. Sinnfällig thematisiert der italienische Komponist darin die Bilderwelt des Triester Malers Viktor von Thümmel (1886-1948), der nach chronischem Alkoholmissbrauch und Ausbruch einer Geisteskrankheit seine letzten Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verlebte. Indem sich Nieder, der selbst aus Triest stammt, von in der Anstalt entstandenen kindlich-naiven und gleichwohl mitunter hintersinnigen Zeichnungen Thümmels inspirieren ließ, schuf er eine enge Verbindung von «Bild» und «Ton», die für die Kunstform Oper selbst wiederum konstituierend ist.
Wie eine Inszenierung damit umgehen wird, bleibt abzuwarten, die Mu­sik ist jedenfalls großartig. Aufwändig eingerichtet für sprechenden Pianisten, Akkordeon, Perkussion, Violinen, 18 Orchestergruppen und Chor, werden 19 zusammenhängende «Klangbilder» durchmessen, die sich zum wundersam-bizarren Reigen formieren. Die Titel der Einzelteile entsprechen den Zeichnungen und lauten etwa «Das Meer», «Der Schuh», «Der Stern» oder «Vögelein», aber auch «Tote Frau» oder «Toter Freund» – wobei jedes Bild zur Projektionsfläche einer tiefste seelische Regionen auslotenden Miniatur gerät.
Der Maler selbst begriff sich als ziellosen Wanderer, der alle Namen einschließlich seines eigenen vergessen will und sich in seinen Bildern wie in «verschwimmenden Träumen» verliert. Im übertragenen Sinne «frisst» er seine Bilder – bis er mit vollem Magen ins Wasser fällt und sie im Unterbewusstsein wiederfindet. Frei von Komik ist diese Tragik nicht, doch Nieder wahrt zu beidem Distanz und ist weit davon entfernt, sich seinerseits musikalisch im wahnhaften Kosmos des Malers zu verlieren. Vielmehr begegnet er ihm mit betörender Klangfantasie einerseits und struktureller Strenge andererseits, wozu auch feste, quasi leitmotivische Zuordnungen gehören. So erhält Thümmel seine eigene «instrumentale Stimme», die ihn in fast jedem Bild begleitet und die Nieder als «Komplex aus einem Klavier-Akkordeon-Perkussion-Geigen-Klang» charakterisiert.
Die Makroform der Komposition vergleicht er mit der Fassade eines Hauses in der Dämmerung, wenn ein Fenster nach dem anderen aufleuchtet. Kontrapunktiert wird diese schematische Reihung von den Klängen selbst, die in ihrer surrealen Intensität eher an windschiefe Wände und zerfließende Spiegelkabinette gemahnen. Dass Suggestivität und Abstraktion in Der Bilderfresser perfekt austariert sind, ist Nieders hervorragenden Interpreten (s. o.) zu verdanken.

Egbert Hiller