Nonnenmann, Rainer
Der Gang durch die Klippen
Helmut Lachenmanns Begegnung mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 19571990
Wer unvorbereitet in der Mitte des Buches die Bildseite einer Postkarte mit der Deportation von Juden aus dem Warschauer Ghetto entdeckt, wird verstört nach dem «Sitz» eines solchen Erbärmdebildes in der vorliegenden Dokumentation von Briefen, Widmungen, Semesterberichten und Vortragstexten fragen. Die Antwort gibt der von der italienischen Resistenza kommende Luigi Nono selbst. Mit diesem Kartengruß nämlich kontert er den zornigen Einspruch Helmut Lachenmanns gegen den Bau der Berliner Mauer und die Willkürherrschaft der «brutalen Clique von Pankow». Die von Lachenmann später als ein «Gang durch die Klippen» erfahrene tiefe Freundschaft mit seinem Lehrer steht hier vor ihrer ersten Bewährungsprobe, die beide Komponisten (wie alle späteren Kontroversen und Zerwürfnisse auch) bestanden haben mit vielen Blessuren zwar, doch rückblickend im stolzen Bewusstsein, dass es ein aufrechter Gang war.
Dass und wie es Rainer Nonnenmann gelungen ist, diese im wörtlichen Sinn «verbriefte» Freundschaft samt ihrem ständigen Widerspiel von Annäherung und Entfernung, Trennung und Aussöhnung zur Sprache zu bringen, macht dieses Buch zu einem wahren Glücksfall. Vom durchgehenden Rahmentext des Chronisten behutsam begleitet, spürt der Leser etwas von dem Unverbrüchlichen, das über alle Brüche, Verstimmungen und Verwerfungen hinweg das Denken und Schaffen Nonos und Lachenmanns verbindet. Mit höchst inspirierten Notaten und analytischen Kommentaren zu den Werken beider und zu ihrer Verortung in den zentralen ästhetischen und politischen Debatten geht eine sensible Neubelichtung der kompositorischen Landschaft nach 1950 einher. Die Metapher vom «Gang durch die Klippen» erhält damit eine zusätzliche Bedeutung, und schon ein Blick auf das Register lässt ahnen, welcher Radius dabei ausgeschritten wird.
Von September 1957 bis zu seinem Tod im Mai 1990 hat Nono über einhundert Briefe mit Lachenmann gewechselt. Sie sind allesamt Belege für die eminente Bedeutung Nonos für den kompositorischen Werdegang seines Schülers, sie bezeugen aber auch Nonos lebenslanges Suchen als Mensch und Künstler. Sie verdeutlichen die enge Verknüpfung von kompositorischer Praxis und theoretischer Reflexion bei Lachenmann, und sie geben mit verzehrender Intensität Auskunft über so manche Streitpunkte und Differenzen. «Krach und Funkstille» (R. N.) lassen schließlich den Kontakt ab 1971 für ein ganzes Jahrzehnt ruhen, bis Lachenmann ein Seelenmorsezeichen aus Venedig empfängt und es spontan erwidert. Es ist wohl die anrührendste Passage der gesamten Korrespondenz (S. 365), bei der man ausrufen möchte: «Helmut, der Wagen bricht!» Doch da ist kein erlöster Prinz weit und breit, und der Gang durch die Klippen führt auch nicht stracks zum Olymp, wie das eindrucksvolle Doppelporträt auf dem Umschlag suggerieren könnte. Wohl aber erfährt der Leser viel Bewegendes und Faszinierendes über zwei Freunde, die sich nichts geschenkt und doch alles gegeben haben. Sie sind mit den Worten Arnold Schönbergs, die dem II. Kapitel als Motto vorangestellt sind mehr als Halbgötter, nämlich Vollmenschen.
Peter Becker