Herndler, Christoph / Florian Neuner (Hg.)

Der unfassbare Klang

Notationskonzepte heute

Verlag/Label: Klever, Wien 2014, 270 Seiten, 19,90 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 86
Zwar steht die vorliegende Band in enger Verbindung mit einer Ausstellung, die im Sommer 2014 in der Linzer Galerie MAERZ stattfand und von einem Symposium begleitet wurde, doch verstehen ihn die Herausgeber weniger als Dokumentation beider Ereignisse denn als materialreiches Lese- und Arbeitsbuch, das eine ganze Reihe differenter Positionen präsentiert. Ausgangspunkt für die Herangehensweise sind tatsächlich – der Titel hält dies dezidiert fest – die Notationskonzepte, so dass die häufig zu unterschiedlichsten Sys­tematisierungsversuchen führende Frage nach den visuellen Konsequenzen für das zur Notation gewählte Medium erst an zweiter Stelle steht.
Damit rückt aber auch ein anderer für das künstlerische Schaffen bedeutsamer Aspekt in den Mittelpunkt, nämlich der Gedanke, «dass die Frage nach der Notation direkt ins Zent­rum des Musikdenkens führt und dass Komponisten, die in ihrer Arbeit das geläufige Funktionieren der Standard-Notenschrift einfach voraussetzen, ihre kompositorische Praxis in einem entscheidenden Punkt nicht reflektieren» (S. 8). 
Diesem Umstand tragen alle jene Beiträge oder auch Gespräche Rechnung, in denen Komponisten wie Peter Ablinger, Mi­lan Adam­c?iak, Nikolaus Gerszewski, Christoph Hernd­ler, Bruno Liberda, Michael Maierhof, Harald Muenz, Chiyoko Szlavinics und Jakob Ullmann sich mehr oder minder ausführlich – und auch mit unterschiedlichem Erfolg – daran versuchen, ihre individuellen Positionen zur Thematik genauer zu umreißen. 
Als gedankliche Grundlage für diese im Buch verstreuten und mit zahlreichen Abbildungen illustrierten Annäherungen können die beiden einführenden Beiträge von Sebastian Kiefer und N. Andrew Walsh zu Beginn des Bandes dienen, die zugleich wichtige Anstöße für die zukünftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Notation liefern. Kiefer legt seine «Anmerkungen zum Sinn des Notierens» als Diskurs an, in dem er durch historische Kontextualisierung von Notation die ästhetischen Grundlagen der Standardnotation und die damit im abendländischen Musikdenken verknüpften Konzeptionen von «Werk» und «Komponist», aber auch diverse Alternativ- und Erweiterungskonzepte aus der Gegenwartsmusik reflektiert. Walsh dagegen befasst sich mit dem Versuch einer Taxonomie «ergordischer», also den Aspekt der Partizipation oder sozialen Interaktion von Interpreten integrierender Partituren, zu denen er alle Arbeiten zählt, in denen das geläufige funktionale Verständnis des Begriffs Notation aufgehoben und durch eine im weitesten Sinne «grafische» Komponente ersetzt ist. 
Diesen Betrachtungen gesellen sich – dabei den einen oder anderen hier bereits genannten Aspekt erneut aufgreifend – im weiteren Verlauf des Bandes ein Essay von Susana Zapke über «innovative Notationssysteme im 20. Jahrhundert» als Indizien für «Krisen der Notation» sowie ein Beitrag Gisela Naucks über zeitgenössische Notationsstrategien bei Wolfgang Heisig, Jakob Ullmann und Dmitri Kourliandski hinzu.
Stefan Drees