Reissig, Elfriede (Hg.)
Dialoghi
Annäherungen an Giacinto Scelsi
Noch immer haftet der künstlerischen Existenz von Giacinto Scelsi etwas Rätselhaftes an, auch wenn so manches Produktionsgeheimnis im Zuge der Sichtung und Erforschung seiner Tonbänder nach Öffnung der Archive der Fondazione Isabella Scelsi durchsichtiger geworden ist. Eine weitere, sehr lesenswerte Annäherung an den großen Outsider der Neuen Musik ist dieser von der österreichischen Musikwissenschaftlerin Elfriede Reissig initiierte Interviewband, I-Tüpfelchen eines mehrjährigen Forschungsprojekts unter dem Titel «Giacinto Scelsi und Österreich».
Österreich, insbesondere Graz, hat eine lange Scelsi-Tradition und so kommen hier auch diejenigen zu Wort, die entscheidenden Anteil an der Entdeckung und Verbreitung von Scelsis singulärem «uvre» nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa hatten. Komponisten, Interpreten und Programmmacher erörtern (oft in Personalunion) in neun wirklich substanziellen Gesprächen die Bedeutung Scelsis als «persönliche Rezeptionsgeschichte» und geben damit zugleich Auskunft über die charismatische Wirkung, die seine Musik auf die zeitgenössische Musik insbesondere der 1990er Jahre ausgeübt hat.
Hierbei dreht sich naturgemäß vieles, manchmal alles, um das bei Scelsi besonders interessante und komplexe Problemfeld Improvisation Komposition Interpretation, dessen Erörterungen weit über den Gegenstand dieses Buchs hinausgehen, betreffen sie doch grundsätzliche Fragen der Produktions- und Rezeptionsweise von komponierter Musik, Fragen, die tief ans Selbstverständnis europäischer Komponisten rühren. Die Beziehungen zwischen Spontaneität und Planung, Spiel und Notat, Improvisation und Werkgestalt sind überaus vertrackt und eine Erkenntnis dieser Publikation bei Scelsi weniger zu trennen als einen die viel kolportierte Aufspaltung von «Spieler» und «Schreiber» glauben machen könnte.
Georg Friedrich Haas, der naturgemäß sein Augenmerk auf Scelsis Mikrotonalität legt, sieht Scelsis Genialität vor allem in der «Verweigerung, den Kompositionsprozess durch die Notation beeinflussen zu lassen». Improvisation als Komposition ohne Schrift, wenn man so will. Auch Klaus Lang betont im Willen zur Entmystifizierung des Komponisten den Umstand, dass Scelsi augenscheinlich sehr strukturiert und keineswegs unvorbereitet in seine Improvisationen hineingegangen ist. Besonders erhellend in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Elisabeth Harnik, die, sowohl Komponistin wie Improvisationsmusikerin, die fließenden Übergänge beider Metiers im Wechselspiel von Kalkulation und Unvorhersehbarkeit aus dem Effeff kennt.
Die großen Scelsi-Themen Klang, Zeiterfahrung und Werkgenese werden in diesen «Annäherungen» auch aus ganz spezifischen Perspektiven betrachtet: Gerd Kühr nimmt insbesondere Scelsis Gesangsstücke in den Blick und reflektiert anhand der Beziehung zur Sängerin Michiko Hirayama über das Verhältnis von Komponist und Interpret; Rupert Huber exemplifiziert die «endogene Zeiterfahrung» in Scelsis Musik vermittels der Quattro Incantesimi für Chor und Orchester; Markus Hinterhäuser nimmt die unmittelbar physischen, ekstatischen Aspekte des Klavierwerks in den Fokus, und Beat Furrer nähert sich Scelsis Klangvorstellungen im Zwiespalt von «improvisatorischer» Produktion und kompositorischem Endresultat anhand des «Violinkonzerts» Anahit. Auch Furrer sieht in der Arbeitsweise Scelsis vor allem ein ganz eigenes kompositorisches Verfahren.
Wie man das «Phänomen» Scelsi produktiv in die Gegenwart tragen kann, davon erzählt Uli Fussenegger und gibt Auskunft über sein Projekt «Scelsi revisited», das Kompositionen anregte, die sich unmittelbar auf originales Bandmaterial Scelsis bezogen (und nicht etwa auf dessen Abschriften). Grundlage waren bis dato teilweise unbekannte Ondiola-Stücke, die Fusseneggers Faszination für die mehrstimmigen Arbeiten Scelsis weiter befeuerten. Auch der Kontrabassist, Komponist und Improvisationsmusiker stellt den Begriff «Improvisation» vehement in Frage und verweist darauf, wie durchdacht und strukturell aufeinander bezogen Scelsi die einzelnen Tonbandschichten konzipierte und von ganz konkreten Klangvorstellungen hinsichtlich des Endresultates geleitet war.
Einen kritischen Kontrapunkt setzt abschließend Clemens Gadenstätter, der hier aus der allgemeinen Scelsi-Apologetik herausfällt. Er berichtet anschaulich über eine ganz andere Erfahrung beim Hören von Scelsis Musik: einer als eher unangenehm empfundenen «Überwältigung» der Wahrnehmung durch die Aura des Rituellen und der gewaltigen, ja, gewalttätigen Klang-Wucht von Stücken wie Konx-Om-Pax.
«Ich bin kein Komponist!», hat Scelsi einmal programmatisch geäußert und immer wieder den transzendenten Impetus seines Tuns betont. Für den großen Widerspruch oder nennen wir es besser: das große Rätsel, warum Scelsi unter diesen Prämissen seine improvisatorischen Séancen in eine reproduzierbare Werk-Form gegossen haben wollte, was der Idee der Momenthaftigkeit und Ich-Transzendierung ja zunächst vollständig widerstrebt, findet auch diese eloquente «Annäherung» keine abschließende Antwort. Das Maß an «Erklärbarkeit» bleibt im Falle von Scelsi weiterhin angenehm beschränkt
Dirk Wieschollek