Hindrichs, Gunnar
Die Autonomie des Klangs
Eine Philosophie der Musik
Seit Jahrtausenden beißen sich Philosophen die Zähne an der Musik aus an dieser seltsamen Zeitkunst, die so schwer zu fassen ist, die an einer Krankheit leidet, die man vom Menschen kennt und die als Autismus bekannt ist. Musik entzieht sich, wenn man ihr zu nahe kommt. Sie gleicht dem Pudding, der nicht an die Wand zu nageln ist.
Gunnar Hindrichs, den 42-jährigen Professor für Philosophie an der Universität Basel, beeindruckt all das nicht. Er ist kein Psychologe, dafür aber geschult an Metaphysik wie am spekulativen Denken, hat Musikwissenschaft betrieben inklusive einer Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno. Was er nun in Die Autonomie des Klangs versucht, ist nicht weniger als eine Klärung grundlegender Fragen: Was macht das musikalische Kunstwerk aus? Und: Worin kann eine Ontologie der Musik bestehen, also ihre umfassende Seinsbestimmung?
So etwas liest sich nicht wie ein Witz in der BILD. Hindrichs setzt die Kenntnis von Adornos Materialbegriff ebenso voraus wie Helmut Lachenmanns ästhetische Schriften und maßgebliche Entwicklungen der Musikgeschichte vom 13. Jahrhundert bis zur Jetztzeit. Es gelingt Hindrichs tatsächlich, all dies schlüssig zu kombinieren. Das verdankt sich einer unbedingten Konzentration auf seine Ausgangsfragen sowie einer hohen Abstraktionsfähigkeit. In 252 Paragraphen und sechs Kapiteln durchschreitet er grundlegende Aspekte von Musik: Das musikalische Material kommt modifiziert zur Sprache; vom musikalischen Klang geht es über musikalische Zeit und Raum hin zum musikalischen Sinn und zum musikalischen Gedanken.
Solch Elementares kann nicht ohne Reibungsverluste, ohne Exklusion vonstatten gehen. Notenbeispiele gibt es keine, ebenso wenig konkrete Werkbezüge. Wenn sich Hindrichs auf die Musikgeschichte bezieht, geschieht es meist in Form übergreifender Termini, die den progressiv Gesinnten verraten. Musique concrète, Neuer Konzeptualismus, Musique spectrale sowie Lachenmanns Musique concrète instrumentale all das kommt vor, wobei das diesen Erscheinungen zugrunde liegende geräuschlastige «Material» doch sichtlich in Reibung gerät zu den gebildeten Kategorien. Im Sinne seiner ontologischen Bestimmung muss Hindrichs das in Kauf nehmen. Er leugnet das nicht, unterscheidet dabei zwischen Denken über Musik und Denken in Musik.
Die immanente Seinsbestimmung des musikalischen Kunstwerks berührt sich mit Ideen absoluter Musik. Hindrichs schließt außereuropäische wie funktionale Musik ebenso aus wie musiksoziologische oder musikethnografische Fragen, denen er unübersehbar skeptisch gegenübersteht. Seinen Verdienst mindert das nicht. Nach der Lektüre hört man Musik anders. Hindrichs kühl analytischer Blick wird wärmer in der direkten Begegnung mit Klingendem. Allein dadurch ist einiges gewonnen!
Torsten Möller