Tsao, Ming

Die Geisterinsel

Verlag/Label: Kairos 0013372KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 72
Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 4

Booklet: 5
 
Die Vorgeschichte zu Ming Tsaos Kurzoper Die Geisterinsel ist komplex: Anno 1797 schrieb Stuttgarts Hofkomponist Johann Rudolf Zumsteeg unter diesem Titel eine Kammeroper für Sänger und Schauspieler auf ein Libretto des Friedrich Wilhelm Gotter. Dieser wiederum bezog sich bei seiner Arbeit auf Shakespeares Drama The Tempest. Zumsteegs Opus sollte nach großen Erfolgen in Vergessenheit geraten. 
Erst im Jahr 2010 wurde die Partitur im Archiv der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) von dem Alte-Musik-Spezialisten Frieder Bernius wiederentdeckt. Im Jahr darauf kam Ming Tsaos Werk, geschrieben im Auftrag der Oper Stuttgart, in der damaligen Reihe «Zeitoper» im Lesesaal der WLB zur Uraufführung. Wenn man so will, hatte Ming Tsao mit seiner Partitur also nicht nur ein Stück Stuttgarter Musikgeschichte, sondern auch ein Stück Weltliteratur mit seiner musikalischen Sprache überschrieben, einer Sprache, die mit ihren häufig wechselnden Metren, ihrer Polyrhythmik, ihren kaskadenartig und in schneller Folge eintretenden Tempowechseln ganz eigene, man könnte sagen, «literarisch-musikalische» Qualitäten entwickelt.
Um dieser Sprach-Musiksprache den geeigneten Nährboden zu verschaffen, hat Ming Tsao die Handlung der Zumsteeg’schen Fassung in hohem Maße verdichtet und das Personal auf einige wenige zentrale Figuren beschränkt. Es treten auf: Prospero, Miranda, Fernando (bei Shakespeare Ferdinand), der Geisterchor und Caliban. Letzterer wird von zwei Schauspielern dargestellt, wovon der eine Calibans ursprüngliche Seite repräsentiert und der andere die durch Prospero humanistisch gebildete. 
Die Story von Shakespeare-Gotter-Zumsteeg dient Ming Tsao genau genommen nur als Folie für dieses musikalische Versuchslabor, in dem das Experiment mit der Fragestellung abläuft: Was passiert, wenn eine Ur-Sprache in gewisser Weise domes­tiziert und umgeformt wird, wohin verschieben sich die Konnotationen – was war zuerst da: der Klang oder das Wort? Bildet ein sinnhafter Klang das Wort, oder diktiert das Wort sich selbst seinen Klang? Oder: Wie verändern Betonung und Klangfarbe nicht nur den Erzählduktus, sondern auch die Wahrnehmung des Erzählten und damit die Konnotation von vermeintlich bekannten Erzählmustern? Im 13. und letzten Klangbild mit dem Titel «Sandfall» inszeniert Ming Tsao den Höhepunkt dieses dekonstruierend konstruierenden Systems als Chor mit Kieseln, die sachte rhyth­misiert auf verschiedene Flächen rieseln: An diesem Punkt angelangt, erlebt der Hörer sein Ohr als unendlich geschärft für die Logik von Ming Tsaos Klanggrammatik – auch weil Stefan Schreiber Solisten und Instrumentalensemble so souverän konzentriert durch die stürmisch-stillen Klangbilder führt.
Dass die Idee Ming Tsaos im Grundsatz übertragbar ist, lässt sich anhand der kurze Zeit später entstandenen Serenade nachvollziehen. Als Folie dienen hier Schönbergs Serenade und das Hölderlin-Gedicht Hälfte des Lebens. Programmatisch konsequent steht am Ende der CD das Gitarrenstück If ears were all that were needed … aus dem Jahre 2007.
 
Annette Eckerle