Vasks, Peteris

Die Jahreszeiten

Verlag/Label: Wergo WER 67342
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Frühling, Sommer, Herbst und Winter – jede Jahreszeit hat ihre Reize. Und jede Jahreszeit hat auch ihre unangenehmen Seiten – was die Antwort auf die potenzielle Frage einer Lieblingsjahreszeit erheblich erschwert. Im wirklichen Leben. Bei der Einspielung des großen Klavierzyklus Die Jahreszeiten von Pe¯teris Vasks dagegen fällt mir diese Antwort nicht schwer: der Winter.
1980 hat der bedeutende lettische Komponist ein Klavierstück komponiert: Weiße Landschaft – ein scheinbar schlichtes und einfaches Stück, welches auch ausschließlich die weißen Klaviertasten benutzt! Wie Klanginseln tauchen hier die – variiert wiederholten – Motive aus der Stille empor, vergleichbar durchaus Bäumen, Häusern oder Menschen in tief verschneiter Landschaft. Doch ging es Vasks beim Komponieren nicht (nur) um das Ausmalen einer Idylle. Als wacher politischer Kopf verfolgte er seinerzeit auch mit Entsetzen den Niedergang Lettlands in den letzten Jahren der sowjetischen Besatzung, die Flucht in den Alkoholismus, die lähmende Stille, die sich über das wunderschöne Land gelegt hatte.
Ein Jahr später folgte die Komposition Herbstmusik (mein zweitliebstes Stück der CD). Im Gegensatz zum Winterstück ist es eine fast dramatisch zu nennende Komposition, man spürt förmlich die wilden Stürme, die über die Landschaft (bzw. die Tastatur des Klaviers) hinwegfegen und am Ende die drückende Stille des Winters vorwegnehmen.
Danach folgte in der Komposition des Zyklus eine lange Pause; erst Mitte der 1990er Jahre setzte Vasks ihn fort – mit der hochvirtuosen Frühlingsmusik. Auch diese scheint auf den ersten Blick naturalistisch den Aufbruch aus dem Winter, die Fruchtbarkeit und die Hoffnung zu beschreiben (einschließlich diverser Vogelrufe und komponierter Frühlingsgewitter). Auch hier gibt es jedoch den politischen Hintergrund: 1991 befreite sich Lettland von der sowjetrussischen Fremdherrschaft, auch gesellschaftlich brach nun nach langem Winter der Frühling mit all seinen Hoffnungen an. Recht neu (von 2008) ist schließlich der Sommer mit Grüne Landschaften, ein Stück von fast lärmender Fröhlichkeit.
Die Musik von Pe¯teris Vasks – und so auch dieser umfangreiche Klavierzyklus – wirkt auf mitteleuropäisch-avantgarde-geschulte Ohren befremdlich (wie ja auch die Musik anderer baltischer Komponisten). Doch schiebt man seine ästhetischen Ansichten oder gar Vorurteile beiseite und lässt sich auf sie ein, eröffnet sich eine wunderbare – fast exotische – Hörwelt. Sicher: diese Musik tut niemandem weh, wie neulich ein Kollege durchaus abfällig urteilte. Aber muss sie das denn? Und schon gar nicht, wenn man der beeindruckenden Interpretation des lettischen Pianisten Vestard Shimkus folgt, dessen Gesamtaufführung des Zyklus Wergo nun als Live-Mitschnitt auf CD veröffentlicht hat.


Steffen Schleiermacher