Nancarrow, Conlon / Schlumpf, Martin

Die Kunst des Tempokanons

Verlag/Label: Wergo
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2005/03 , Seite 75

musikalische wertung: 3
technische wertung: 4
repertoirewert: 3
booklet: 5
gesamtwertung: 4

Conlon Nancarrows Studien für Player Piano: Die Partitur, gestanzte Rollen, gespielt von einem me­chanischen Klavier. Nicht nur mehrere Stimmen spulen sich in rasendem Tempo durch die Ohren des Hörers. Diese Stimmen überlagern sich, läuft doch jede in einem ihr eigenen Tempo ab. Neben Instrumentalbearbeitungen hat sich nun der Züricher Komponist, Klarinettist und Im­provisator Martin Schlumpf dieser Studien angenommen.
Schlumpf suchte nicht den Transfer zurück zum Interpreten. Sein Instrument ist der Computer. Bei der Realisa­tion seiner Bearbeitungen stand ihm kein reales Orchester, sondern elektronische Klangfarben und MIDI-Klänge zur Seite. Ziel der klanglichen Bearbeitungen war es, die komplexen Dimensionen dieser Musik besser hörbar zu machen, was durch gezielte Aufteilung der einzelnen Stimmen im Stereobild noch unterstrichen wird. Die Vorbereitungen einer solchen Bearbeitung sind weitaus umfassender als traditionelle Bearbeitungen von Instrumentalstücken für eine andere Besetzung. Zwar wird jeder Stimme eines Ka­nons meist ein Klang zugewiesen, doch steht davor die Aufgabe der Analyse und der Strukturierung. Denn die einzelnen Stimmen werden nicht nur im Kanon ge­führt, sondern sie stehen in zum Teil diffiziler Temporela­tion zueinander. Deshalb die Bezeichnung «Tempokanon». Schlumpf hat daher den verblüffenden und im menschlichen solistischen Klavierspiel nicht ausführbaren Effekt der sich überholenden, überlagernden, der sich aufeinander zu und sich wieder entfernenden Stimmen heraus­präpariert. Momente, in denen die Stimmen synchron zueinander laufen, werden als «Koinzidenzpunkte» akustisch markiert.
Klanglich hat der Bearbeiter vor allem diverse Varianten an Tasten- und Zupfinstrumenten bzw. deren elektronische Varianten gewählt. Einzelne Studien werden durch Holzbläserklänge strukturiert. Markante Stellen, einzelne Abschnitte, Um­kehrpunkte und Wechsel werden Perkussionseinwürfen zugeordnet. So fängt die Musik Nancarrows stellenweise plötzlich an zu swingen, um gleich darauf wieder in ra­sende Klangkaskaden auszubrechen. Ein anderes Mal wird die Assozia­tionskette zu barocker Fortschreitungsgestik gelenkt. Doch nicht erst zum Schluss der CD, wenn die An­klänge an kli­scheehafte Orientalis­tik allzu stark wird, stellt sich eine nicht unwesentliche Frage: Wie sollte man diese CD hören? Versteht man sie als analytische Studie, die mit Hilfe klangfarblicher Ausdeutung Komplexitätsreduktion beim Hören erreichen möchte und die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Stimmen ermöglicht, so kann man durchaus sagen, dass dies vollauf gelungen ist. Hört man diese Bearbeitung jedoch als eine Bearbeitung, die für sich steht oder aber das Original zu er­weitern sucht, so wird man ent­täuscht und greift doch wieder zum Player Piano mit seinem unerbittlichen Klang. Denn durch das Hinzufügen der klangfarblichen Strukturierung geht ein Teil der Gesamtheit verloren. Der Versuch einer Komplexitätsreduk­tion verändert das Werk in diesem Fall so stark, dass sich zwangsläufig ein anderes Hören ergibt, ein Hö­ren, das gelenkt wird von der abend­ländisch geprägten Vorstellung eines linear strukturierten Hörens, eines Rezeptionsverständnisses durch nachvollziehbare Echtzeit-Hör-Analyse.

Nina Polaschegg