Nancarrow, Conlon / Schlumpf, Martin
Die Kunst des Tempokanons
musikalische wertung: 3
technische wertung: 4
repertoirewert: 3
booklet: 5
gesamtwertung: 4
Conlon Nancarrows Studien für Player Piano: Die Partitur, gestanzte Rollen, gespielt von einem mechanischen Klavier. Nicht nur mehrere Stimmen spulen sich in rasendem Tempo durch die Ohren des Hörers. Diese Stimmen überlagern sich, läuft doch jede in einem ihr eigenen Tempo ab. Neben Instrumentalbearbeitungen hat sich nun der Züricher Komponist, Klarinettist und Improvisator Martin Schlumpf dieser Studien angenommen.
Schlumpf suchte nicht den Transfer zurück zum Interpreten. Sein Instrument ist der Computer. Bei der Realisation seiner Bearbeitungen stand ihm kein reales Orchester, sondern elektronische Klangfarben und MIDI-Klänge zur Seite. Ziel der klanglichen Bearbeitungen war es, die komplexen Dimensionen dieser Musik besser hörbar zu machen, was durch gezielte Aufteilung der einzelnen Stimmen im Stereobild noch unterstrichen wird. Die Vorbereitungen einer solchen Bearbeitung sind weitaus umfassender als traditionelle Bearbeitungen von Instrumentalstücken für eine andere Besetzung. Zwar wird jeder Stimme eines Kanons meist ein Klang zugewiesen, doch steht davor die Aufgabe der Analyse und der Strukturierung. Denn die einzelnen Stimmen werden nicht nur im Kanon geführt, sondern sie stehen in zum Teil diffiziler Temporelation zueinander. Deshalb die Bezeichnung «Tempokanon». Schlumpf hat daher den verblüffenden und im menschlichen solistischen Klavierspiel nicht ausführbaren Effekt der sich überholenden, überlagernden, der sich aufeinander zu und sich wieder entfernenden Stimmen herauspräpariert. Momente, in denen die Stimmen synchron zueinander laufen, werden als «Koinzidenzpunkte» akustisch markiert.
Klanglich hat der Bearbeiter vor allem diverse Varianten an Tasten- und Zupfinstrumenten bzw. deren elektronische Varianten gewählt. Einzelne Studien werden durch Holzbläserklänge strukturiert. Markante Stellen, einzelne Abschnitte, Umkehrpunkte und Wechsel werden Perkussionseinwürfen zugeordnet. So fängt die Musik Nancarrows stellenweise plötzlich an zu swingen, um gleich darauf wieder in rasende Klangkaskaden auszubrechen. Ein anderes Mal wird die Assoziationskette zu barocker Fortschreitungsgestik gelenkt. Doch nicht erst zum Schluss der CD, wenn die Anklänge an klischeehafte Orientalistik allzu stark wird, stellt sich eine nicht unwesentliche Frage: Wie sollte man diese CD hören? Versteht man sie als analytische Studie, die mit Hilfe klangfarblicher Ausdeutung Komplexitätsreduktion beim Hören erreichen möchte und die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Stimmen ermöglicht, so kann man durchaus sagen, dass dies vollauf gelungen ist. Hört man diese Bearbeitung jedoch als eine Bearbeitung, die für sich steht oder aber das Original zu erweitern sucht, so wird man enttäuscht und greift doch wieder zum Player Piano mit seinem unerbittlichen Klang. Denn durch das Hinzufügen der klangfarblichen Strukturierung geht ein Teil der Gesamtheit verloren. Der Versuch einer Komplexitätsreduktion verändert das Werk in diesem Fall so stark, dass sich zwangsläufig ein anderes Hören ergibt, ein Hören, das gelenkt wird von der abendländisch geprägten Vorstellung eines linear strukturierten Hörens, eines Rezeptionsverständnisses durch nachvollziehbare Echtzeit-Hör-Analyse.
Nina Polaschegg