Hiekel, Jörn Peter (Hg.)

Die Kunst des Überwinterns

Musik und Literatur um 1968 (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Band 8)

Verlag/Label: Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2011, 142 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 93

«Warum sich jetzt mit 1968 befassen?», fragt Jörn Peter Hiekel im Titel seines Einführungstextes. Gleich danach beschreibt er die Tücken des Themas, die sich ergäben aus der zeitlichen Nähe einerseits und der politischen Aufladung der prägnanten Jahreszahl andererseits. Zu diesen «Tücken» gesellen sich, gerade wenn es wie im Sammelband um die Kulturgeschichte des Ostblocks geht, immanent ästhetisch-hermeneutische: Was dem an der westlichen Avantgarde geschulten Exegeten als stromlinienförmig angepasste Musik im Geist des Sozialistischen Realismus erscheint, wird vor Ort mitunter und zu Recht als mehr oder weniger deutliche Staatskritik verstanden. Manchmal aber ist der Druck der staatlichen Zensur so groß, dass die «Kunst des Widerständigen» zur «Kunst des Überwinterns» mutiert, mutieren muss.
Die Problemstellungen des Sammelbandes – Ergebnis einer Tagung an der Hochschule für Musik «Carl Maria von Weber» Dresden im Jahr 2008 – sind weit, bei fortschreitender Lektüre stellt sich heraus: zu weit gefasst. Als «Aufhänger» für die Ereignisse des Jahres 1968 dient der «Prager Frühling» mitsamt dessen Niederschlagung durch sowjetische Truppen. Nun geht es aber nicht nur um den tschechischen Komponisten Marek Kopelent oder um die Diskussion der Literaten Milan Kundera und Václav Havel, sondern auch um die Musik der Bundesrepublik, der ehemaligen DDR und schließlich Ungarns im Anschluss des Jahres 1956, als auch dort sowjetische Truppen Liberalisierungsversuchen mit Gewalt begegneten.
Zusätzlich flankiert werden diese Themengebiete durch ebenso grundsätzliche wie übergreifende ästhetische Fragen. Albrecht von Massow beschäftigt die «Autonomieästhetik zwischen Ost und West». Über Martin Luther, Erasmus von Rotterdam und Immanuel Kant kommt er endlich zum Thema, indem er an sich autonome Kompositionsmittel als heteronom definiert, da sie – wie im Falle von Friedrich Goldmanns 2. Sinfonie – quer stehen zum Postulat des Nicht-Formalistischen in der ehemaligen DDR.
Der Konzentration tut die ausufernde Themenvielfalt ebenso wenig gut wie der stark schweifende Charakter des einen oder anderen Aufsatzes. Hans-Klaus Jungheinrich gelingt das Kunststück, auf gerade mal acht Seiten eine Art Panorama der bundesdeutschen Soziokultur Ende der 1960er Jahre zu zeichnen. Mehr oder weniger konsistent bringt er die RAF unter, die kritischen Werke Hans Werner Henzes, das Sogenannte Linksradikale Blas­orchester und die Zweite Frankfurter Schule um Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid.
Stärken hat der Sammelband in subjektiven Schilderungen von Zeitzeugen. Marek Kopelent will das Jahr 1968 nicht überbewerten und gibt eine eindrückliche Schilderung der tschechischen Entwicklung von den frühen 1950er Jahren bis ins «befreiende» Jahr 1989. Solche persönlichen Geschichten sind es, die ein lebendiges und realitätsnahes Bild zeichnen. Obendrein haben sie weniger Tücken als von abstrakten Theorien geleitete Gedanken.

Torsten Möller