Chion, Michel

Die Kunst fixierter Klänge

oder die Musique Concrètement

Verlag/Label: Merve, Berlin 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 92

Was für die neue Musik insgesamt gilt, gilt besonders für die auf Tonträger komponierte Musik: Der Schutthaufen von Irrtümern, Verzeichnungen und halben Wahrheiten droht das Genre nahezu zu ersticken. Wiewohl erst – endlich! – zwanzig Jahre nach der französischen Originalausgabe in einer deutschen Übersetzung zugänglich, räumt Michel Chions Kunst fixierter Klänge gründlich mit Bergen von im­mer noch grassierenden Missverständ­nissen auf: Das kann nie zu spät geschehen. Schon vor zwanzig Jahren stolperte man in Frankreich über das Kauderwelsch von Begriffen sowie technischen oder historischen Erläuterungen, selbst der Name der «Musique concrète» wurde mit jedem Wetterumschlag geändert. Den Missverständnissen, die oft aus einer oberflächlichen Lektüre von Pierre Schaef­fers Traktat des musikalischen Objekts hervorgingen, hat Chion schon 1995 mit einem Guide des objets sonores geantwortet, einer Enzyklopädie der wich­tigsten Termini aus Schaeffers Buch.
In seiner Kunst fixierter Klänge leistet Chion ganze Arbeit: Er räumt nicht nur mit zähen historischen Irrtümern auf, sondern weist auch nach, welche Folgen der schräge Blick oftmals für die technischen und methodologischen Verfahren von Komponisten gehabt hat. Nachdem (seit den 1960er Jahren) schon der Begriff «Mu­sique concrète» zahlreichen – oft hilflosen und verworrenen – Fehlinter­pre­tationen («Musique concrète instrumentale») zum Opfer gefallen war, wird er bei Chion wieder in allen Eh­ren eingesetzt und gleichzeitig von al­lem Humbug befreit, unter dem jener Begriff seit Jahrzehnten verschüttet wurde. Chion betont mehrmals, dass «konkret» überhaupt nichts mit dem Ursprung, der Klangquelle, zu tun hat (Lokomotive oder Kanarienvogel), sondern mit dem Klang selber, was auch immer er sei (natürlich, instrumental oder elektrisch), und dass es um ihn als einzigem konkreten Ausgangspunkt des analytischen Hörens sowie der technischen Verfahren seiner Verarbeitung geht.
Der Verleger hat den Untertitel (Musique Concrètement) unübersetzt gelassen. Hätte er ihn als «oder die Musik ganz konkret» übersetzt, so wäre Chions Gedankenwelt breiter angekündigt worden. Denn wiewohl Chion von der Perspektive des Klangs (und nicht seiner symbolischen Notation) ausgeht, fasst er das Schicksal aller Musik ins Auge. Seine Bücher über Film- und Programmmusik zeugen von seinem weiten Blick. Was Chion über das Problem des musikalischen Materials, des Raums oder des Hörens schreibt, geht weit über die Grenzen der «Musique concrète» hinaus.
Im Gegensatz zu mancher hermetischen oder kryptischen Fibel zur neuen Musik ist Chions Buch logisch und hell geschrieben. Da er so manche überkommene akademische Lehrmeinung über Bord wirft, sollten vor allem junge Musiker oder Studenten dieses Buch Satz für Satz lesen, ohne sich erst die Meinung ihrer Professoren einzuholen.

Konrad Boehmer