Schafer, R. Murray
Die Ordnung der Klänge
Eine Kulturgeschichte des Hörens
Es fällt nicht leicht, die Gedanken des kanadischen Klangforschers R. Murray Schafer auf einen Nenner zu bringen. Sein Ansatz erinnert an Norbert Elias wegweisenden Prozess der Zivilisation und an Claude Lévi-Strauss ethnologischen Strukturalismus. So verdient die grundlegenden Untersuchungen dieser beiden sind, so verdient hat sich auch Murray Schafer mit seinem 1977 erstmals erschienenen Tuning of the World gemacht, das nun von Sabine Breitsameter übersetzt erstmals auf Deutsch in einer gründlich lektorierten Übersetzung vorliegt.
33 Jahre sind viel. Zu Recht verweist Breitsameter in ihrem konzis einführenden Essay auf mittlerweile abwegige Thesen. Murray Schafers Kritik an der Uniformität von Telefon-Klingeltönen konnte kaum drastischer widerlegt werden als durch das heutige Angebot. Obsolet, wie eine Variante von Theodor W. Adornos systemkritischer Musiksoziologie, liest sich auch die Verdammung der Popmusik; dass sie durch ihre Omnipräsenz und übermäßige Lautstärke den Hörer im Dienste des Kommerziellen instrumentalisiere, ja sogar das Gehör physiologisch schädige, ist übertrieben, unterschätzt die Autonomie des Menschen, der ja nicht unbedingt in den Club gehen muss.
Murray Schafers Ordnung der Klänge ist ein kurzweiliges Buch. Abwechslungsreich geht es zu, mehr in die Breite als in die Tiefe. Über die Charakteristik von Naturlauten, von Geräuschen der «postindustriellen Ära» oder denen der «elektrischen Revolution« ist einiges Wissenswerte zu erfahren. Zentral ist für Murray Schafer der Begriff der «Soundscape«. Er versteht ihn weniger als immanent künstlerischen Begriff grundsätzlich spielt die Kunst gegenüber dem Alltag eine untergeordnete Rolle , sondern vor allem als eine Art «Hörporträt» bestimmter ländlicher oder städtischer Situationen oder gleich ganzer Zeitalter. Spannend lesen sich die Annäherungen an das «Klangbild» einer Stadt des 14. Jahrhunderts, etwa in Form von Beschreibungen der Kirchenglocken. Mit bewundernswerter Akribie hat Murray Schafer unterschiedlichste Quellen benutzt. Berichte des Komponisten Johann Friedrich Reichardt über Bettler in Paris stehen neben der Kritik des Erfinders der Rechenmaschine, Charles Babbage, an den vielen städtischen Lärmquellen, die ihm ein «Viertel der Arbeitskraft» raubten.
Murray Schafers Stärke liegt in der Sensibilisierung des Ohrs, die eine große Rolle spielt in seinem Bemühen um eine bewusstere Gestaltung der «Soundscapes» unserer Zeit. Weniger überzeugen seine Folgerungen und Analysen. Wenn das Aufkommen des Alberti-Basses und von Ostinato-Effekten mit dem der Postkutsche erklärt wird, mag man das noch naserümpfend hinnehmen. Bringt Murray Schafer aber das Geräusch des Verbrennungsmotors mit dem Furz in Verbindung, da «sich der Heckauspuff des Autos am selben Ort wie das Rektum bei Tieren» befindet, sind Zweifel an der eigenwilligen «anthroposoziomusikologischen» Analyse angebracht. «Leihe ihm sein Ohr, nicht aber Herz und Verstand», schrieb Thomas Mann einst über Friedrich Nietzsche. Gleiches gilt für Murray Schafer, dessen überaus fruchtbare Ansätze grundlegenderer und konzentrierter Analysen bedürfen.
Torsten Möller