Rihm, Wolfgang

Dionysos

Eine Produktion der Salzburger Festspiele 2010 | Regie: Pierre Audi

Verlag/Label: EuroArts 2072604 (Blu-ray), 2072608 (DVD) | 175 min.
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 77

Das Libretto sei von ihm, doch jedes Wort von Nietzsche, sagt Wolfgang Rihm über sein Bühnenwerk Dionysos, das 2010 in Salzburg in der Regie von Pierre Audi, im Bühnenbild von Jonathan Meese und unter der musikalischen Leitung von Ingo Metzmacher uraufgeführt wurde. Rihm benutzte Nietzsches späte Dionysos-Dithyramben als Steinbruch, aus dem er das Textmaterial für seine «Opernfantasie», so der Untertitel, gewann. Einzelne Wörter und Sätze übernahm er im Original oder fügte sie zu neuen Sinneinheiten zusammen: «Zwischen zwei Nichtse eingekrümmt, ein müdes Rätsel.» Oder: «Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt. Nicht hängen bleiben, wie du Gehängter, von dir selber erjagt, deine eigene Beute, in dich selber eingebohrt. Jetzt! Jetzt! … Jetzt! Selbsthenker! Im eigenen Schachte, gebückt».
Nietzsches Sprache schreit förmlich nach musikalischer Überhöhung. Indem sich das Stück an den assoziativ aneinandergefügten Textbröseln entlangtastet, entstehen kleinere und größere Handlungskerne, zerfließende psychische Konstellationen und emotionale Ausbrüche. Die Worte sind bloß Auslöser für das Drama, das sich ausschließlich in der Musik abspielt.
Dank Rihms überschießender musikalischer Fantasie und der klaren Gliederung der Großform lässt sich der in Musik gesetzte Textbaukasten erstaunlich gut visualisieren. Die Regie von Pierre Audi entfacht eine szenische Dynamik, die den Mangel einer konsistenten Handlung gekonnt überspielt und die inhaltlichen Leerstellen mit kraftvoller Gestik und heftigen Emotionen ausfüllt. Die ausgezeichneten Solisten, das mit Schriftzeichen, Symbolen und Schwarz-Weiß-Kontrasten arbeitende Bühnenbild von Jonathan Meese und eine Videoregie, die das Geschehen nahe heranrückt, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren, tragen zur starken Bühnenwirkung dieser eigenartigen Wörter-Oper wesentlich bei. Ein Film von Bettina Ehrhardt, halb Essay, halb Making-of, ergänzt die Aufzeichnung.

Max Nyffeler