Saariaho, Kaija

D’OM LE VRAI SENS for clarinet and orchestra / Laterna Magica for large orchestra / Leino Songs for soprano and orchestra

Verlag/Label: Ondine ODE 1173-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 78

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

«Nicht sowohl im Traume als im Zustande des Derilierens, der dem Einschlafen vorhergeht, vorzüglich wenn ich viel Musik gehört habe, finde ich eine Übereinkunft der Farben, Töne und Düfte. Es kömmt mir vor, als wenn alle auf die gleiche geheimnisvolle Weise durch den Lichtstrahl erzeugt würden, und dann sich zu einem wundervollen Konzerte vereinigen müssten.» Von E. T. A. Hoffmann, der sie in den «Fantasiestücken» beschreibt, und Charles Baudelaire, der sie in seinem Gedicht «Correspondances» besingt, scheint die Magie synästhetischer Sinneserfahrungen unmittelbar auf die finnische Komponistin Kaija Saariaho übergegangen zu sein.
Das halbstündige Klarinettenkonzert, das 2009/10 für und mit dem finnischen Virtuosen Kari Kriiku entstand, erscheint wie eine Apotheose jener «Übereinkunft der Sinne». Fünf der sechs Satzüberschriften – «L’Ouïe» (Das Gehör), «La Vue» (Das Sehen), «L’Odorat» (Der Geruch), «Le Toucher» (Der Tastsinn) und «Le Goût» (Der Geschmack) – bezeichnen das menschliche Wahrnehmungsspektrum, das die Finnin feinnervig aushorcht, ausspäht, auswittert, abtastet und abschmeckt. Der Finalsatz – «A mon seul désir» (Meinem einzigen Wunsch) – rührt an das Geheimnis des sechsten Sinns.
Die Formidee geht zurück auf einen Zyklus mittelalterlicher Tapisserien, den die Komponistin vor Jahren im Pariser Musée national du Moyen Age entdeckte: «La Dame à la licorne» (Die Dame mit dem Einhorn). Die alten Wandteppiche symbolisieren die menschlichen Sinne. Den letzten ziert ein Spruchband, das in Majuskeln auf den rätselhaften sechsten Sinn anspielt: «D’OM LE VRAI SENS». Dieses Anagramm wählte Kaija Saariaho als Titel des Konzerts, das den Sinnen des Menschen und dem Sinn des Menschseins nachspürt: eine Fata Morgana mystischer Klänge, Farben und Düfte, der sich Kari Kriiku und das Finnische
Radiosinfonieorchester unter Sakari Oramo fast berührungsscheu nähern. Wie ein göttlicher Schöpfungslaut tönt der Ruf der Klarinette im Kopfsatz vor dem Urgrund des ruhig atmenden Orchesters, bevor «La Vue» eine bewegtere, kribbelnde Motivwelt entfaltet. Harmonie mit Duft assoziierend, übersetzt die Komponistin «L’Odorat» in pures Klangfarbenspiel. Der Tastsinn äußert sich in virtuosen Dialogpartien, während im «Geschmacksteil» raue Oberflächen, Tremolos und Triller vorherrschen, die der Solist ins Orchester weiterreicht. Raumgreifende Zeitlosigkeit kennzeichnet den titelgebenden «sechsten Sinn». Den Raumaspekt der Musik bekräftigt die Klarinette (selbst ein Einhorn), indem der Solist Vestibül, Podium und Saal durchwandert.
Eine Phänomenologie des Lichts könnte man das Orchesterstück «Laterna Magica» (2008) nennen. Der Titel entstammt den Memoiren des schwedischen Filmregisseurs Ingmar Bergmann. Der Schwall lichtbeschreibender Adjektive, mit denen er der frühen Projektionstechnik gedenkt, inspirierte Saariahos Tondichtung über die Magie des Lichts. Wie klangbildhaft sie im Übrigen auf lyrische Schwingungen reagiert, zeigt ihr Orchesterlieder-Zyklus «Leinolaulut» (2007): Lieder auf vier Gedichte des finnischen Dichters Eino Leino, die Anu Komsi mit alabasterfarbenem Sopran ausleuchtet.

Lutz Lesle