Donaueschinger Musiktage 2008

Stücke von Johnston, Mundry, Pauset, Poppe, Aperghis, Gander, Haddad, Herrmann, Moguillansky, Ferneyhough, Feiler

Verlag/Label: NEOS 10941 / 10942 / 10943
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 93

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert:5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

«Seit meiner Oper Shadowtime habe ich mehr und mehr verstanden, dass musikalische Form aus der chaotischen Kreuzung und Einwirkung vieler flüch­tiger zeitlicher Spuren entsteht, wobei einige von ihnen zusammen mit speziellen klanglichen Verkörperungen existieren, andere offenbar versuchen, ihre reale Präsenz zu behaupten, indem sie auf ihrer Unvereinbarkeit beharren.» Was Brian Ferneyhough hier zu seinem raumgreifenden Ensemblekonzert Chronos-Aion anmerkt, kann stellvertretend für viele Kompositionen des Donaueschinger Jahrgangs 2008 gelten. Bei den hier mitgeschnittenen Uraufführungen ausgewählter Orchester- und Ensemblewerke stehen Fragen von Identität und Differenz, Auflösung und Gestaltbildung, strukturelle Phänomene und kon­struk­tive Problemstellungen so oft im Vordergrund, dass man fast von einem neuen «Objek­tivismus» sprechen könn­te, freilich ohne Fixierung auf verbindliche Systeme und Regelwerke. Vielmehr ist der Reich­tum an Farben und Gesten unüberhörbar, was im Einzelwerk nicht selten zu lustvoll turbulenten Verstrickungen führt. Die Zeiten asketischer Klang-Kontemplation sind endgültig dahin.
In Isabel Mundrys Ich und Du für Klavier führt das zu denkbar kontrastiven, spannenden Klanglandschaf­ten, die wechselnden Wahrnehmungsperspektiven im Spannungsfeld von individueller Aussage und Resonanz zu verdanken sind. Auch der jordanische Komponist Saed Haddad findet auf der Suche nach dem Erhabenen in The Sublime für Ensemble eine Menge Klang zwischen irisierender Ruhe und Chaos, während Georges Aperghis in Teeter-totter ein konsequentes Gewimmel und Gewusel vom Stapel lässt.
Auffallend häufig sind burleske Dekonstruktionen althergebrachter Formen und Ausdruckscharaktere ver­treten: Arnulf Herrmann betreibt in seinen Fiktiven Tänzen für 17 Musiker eine intelligente und einfallsreiche Sezierung von Ländler-Modellen und beleuchtet in einem Vexierspiel aus Klarheit und Unregelmäßigkeit ein einfaches Bewegungsmodell aus verschiedenen Blickwinkeln. Auch Beine und Strümpfe des Tirolers Bernhard Gander gibt sich, wie der Titel es nahe legt, ausgesprochen agil: ein durchgeknalltes Riesen-Scherzo mit zerhackten Loops und gebrochenen Sequenzen, wo sich verschiedenste Klang-Physiognomien zu chaotischen Texturen bündeln. Und in Enno Poppes Altbau geht es ebenfalls drunter und drüber, als hätte sich die gesamte «Klassische Moderne» dort eingemietet; nach spätromantischen Versatzstücken im zweiten Satz verebbt das signifikanterweise im Nichts. «Die Fassaden sehen unsaniert besser aus als mit einem aprikosenfarbigen Neuanstrich.» Da hat Poppe recht.
Der fast vierzigminütige Exzess Müll für verstärktes Kammerorchester, zwei Sänger und Live-Elektronik von Dror Feiler kommt als Dauer-Tumult am Rande des Nervenzusammenbruchs daher: in seiner Konsequenz, Intensität und sympathischen Undomestiziertheit ein durchaus erfrischendes Unterfangen.

Dirk Wieschollek