Boehmer, Konrad

Doppelschläge. Texte zur Musik

Band 2: 1968–1970, hg. von Stefan Fricke und Christian Grün

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2014, 377 Seiten, 35 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 93

Es waren heiße Jahre, diese späten 1960er. Konrad B. wurde bereits als vielseitig interessierter, auch mit polemischem journalistischem Talent begabter Schüler angeturnt und abgestoßen von Karlheinz Stockhausen. Es kam wegen unüberbrückbarer Differenzen hinsichtlich Sinn und Form der neuen Musik bald zum spektakulären Zerwürfnis. Dessen theoretische Erträge zucken durch die Texte der späten 1960er Jahre. In ihnen geht es immer wieder um Fragen des musikalischen «Materialfortschritts» im Kontext des gesellschaftlichen. Dr. Konrad Boehmer war nach besten Kräften dabei, als der Überbau der Bundesrepublik D aufgefrischt, aufgelockert, aufgemischt oder gar aufgebracht werden sollte. Nun hat er sich und einer an «linkem Kulturengagement» nur noch marginal interessierten Öffentlichkeit Rechenschaft abgelegt über sein Dichten und Trachten in jenen Tagen, in denen er vor textkreierender Produktivität überschäumte.
Vor einem knappen halben Jahrhundert war Boehmer – und davon legen die Texte unterschiedlichster Machart Zeugnis ab – einer der wachsten, agilsten, fleißigsten und produktivsten Protagonisten am Frontabschnitt Musik der «Kulturfront» westlich des «antifaschistischen Schutzwalls» der DDR (und kritisch gerade auch ihr gegenüber). Der Jungkomponist und -publizist gehörte zu den ersten, die sich in der Bundesrepublik mit der dunkelbraunen Vergangenheit prominenter Musiker und dem Fortdauern der in ihr geknüpften Seilschaften beschäftigten. Nach einem vom Komponisten Werner Egk gegen Boehmer erwirkten (aus heutiger Sicht haarsträubenden) Urteil emigrierte dieser ins benachbarte Königreich am Niederrhein und wurde Professor am Konservatorium in Den Haag. Er setzte sich 1968 für den Auf- und Ausbau eines zweiten Studios für Elektronische Musik in den Niederlanden ein und mit dem Elend der Musikkritik auseinander, bewunderte Luigi Nono und Edgard Varèse, etwas später auch die Erbschaft Hanns Eislers.
Boehmer rieb sich an den musiksoziologischen Entwürfen des damals noch hippen Theodor W. Adorno, nahm diesem aber die methodische Beschränktheit auf die «bürgerliche Musik des 18. bis 20. Jahrhunderts» nicht weiters «als Hochmut oder bö­ser Wille» übel. Wurde dann aber schließlich energisch und ballte stellvertretend die Faust der sich eben aus den Industrienationen verabschiedenden Arbeiterklasse: «Adornos Standpunkt gegenüber wäre für eine sinnvolle musiksoziologische Praxis Lenins Forderung geltend zu machen, dass der historische Materialismus die marxistische Soziologie sei» (auch damals wurde übrigens eingewandt: lieber nicht!). Ohne Lenin kam Boehmers Beitrag «Zur Soziologie der vor-barocken Musik» aus. Soziologie sollte, so das Resümee, nicht länger «Unterabteilung der Mu­sikwissenschaft sein, geschweige denn deren Hilfswissenschaft» bleiben: Sie «ist das umfassende Korrektiv aller bisherigen musikwissenschaftlichen Voraussetzungen und Bemühungen». Das war ein eher gruppenspezifischer als ein individueller Irrtum und ist ein Wunsch geblieben, von dessen Schönheit wir heute noch weniger überzeugt sind als damals.

Frieder Reininghaus