Varga, Bálint András

Drei Fragen an 73 Komponisten

Verlag/Label: ConBrio, Regensburg 2014
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 93

Sich über Evidentes Gedanken zu machen, kann sich in Wirklichkeit als außerordentlich kompliziert entpuppen. Sofia Gubaidulinas Beobachtung bringt den Kern dieses Interviewbandes auf den Punkt. Der ungarische Musikvermittler Bálint András Varga stellte über fünfzig KomponistInnen dieselben drei Fragen. Die erste Frage widmet sich einem künstlerischen Schlüsselerlebnis, das den Komponisten maßgeblich beeinfluss­te, womöglich eine neue Schaffensperiode einleitete und sein Denken über Musik veränderte. Die zweite Frage erörtert, ob die Welt der Klänge, der Geräusche, die den Komponisten umgeben, Auswirkungen auf das Komponieren gehabt habe. Schließlich fragt Varga nach der Klassifikation eines persönlichen Stils und wann dieser Gefahr läuft, zur Selbstwiederholung zu werden. Die Namen der Befragten können sich sehen lassen: Schlüsselfiguren der Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts wie Christian Wolff, Krzysz­tof Penderecki, Arvo Pärt, Wolfgang Rihm, Pierre Schaeffer oder Friedrich Cerha und viele mehr stehen Rede und Antwort.
Am knappsten gibt Mark Andre Auskunft. Die Musik Ludwig van Beethovens mache klüger, feiner und tiefer, schreibt er, und habe auch einen großen Einfluss auf seine musikalischen Reflexionen gehabt. Der Amerikaner Milton Babbitt antwortet ausführlicher: Einzelne Komponisten hätten ihn nicht so sehr beeinflusst, vielmehr musikalische Abläufe, die er aus ihren Werken ableitete und in seinen Kompositionen wieder aufgreife. Sofia Gubaidulina, eine der wenigen Frauen in diesem Buch, erzählt, wie sie Stücke anderer Komponisten beim Hören weiterspinnt, und gibt im nächsten Moment an, vor dieser Tätigkeit «Angst» zu haben. Vargas kompakte und repetitive Investigationen erlauben nicht nur Einblicke in das kompositorische Denken seiner Interviewpartner, sondern werden auch zu kurzen Psychogrammen, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Befragten ermöglichen.
Auch ausführlichere Interviews finden sich in dem Sammelband, in denen die jeweiligen thematischen Schwerpunkte mit weiteren Fragen vertieft werden. Das ist zum Beispiel bei Morton Feldman der Fall, den Vargas in Österreich traf. Feldman überrascht mit spirituellen Überlegungen zu seinem Werk. «Wenn mein Werk eine Stimmung erreicht, dann ist es so, als ob ich bete. […] Kunst als Gebet.» Diese Äußerungen scheinen Vargas zu verwirren, da er im Anschluss an das Interview ein Gespräch mit John Cage einfügt, in dem der Versuch angestrebt wird, Feldmans Antworten zu erläutern.
Die Stärke dieses Interviewbandes liegt in seiner einfachen Idee: Vargas ist nicht darum bemüht, eine vermeintliche Tiefsinnigkeit zu erzeugen – er fragt ganz unbedarft, nahezu naiv. In vielen Einführungen, in denen er von der ersten Begegnung mit seinen Interviewpartnern erzählt, gesteht er sogar, sich völlig unvorbereitet auf die Konversation eingelassen zu haben. Diese Haltung schränkt die Komponisten nicht ein und ermöglicht ihnen den Freiraum, ihre Gedanken zu entfalten. So ist eine Sammlung überraschender Anekdoten und interessanter Reflexionen entstanden – eine lesenswerte und unterhaltsame Lektüre.
Raphael Smarzoch