Kurtág, György

Drei Gespräche mit Bálint András Varga und Ligeti-Hommagen

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 92

«Auf Judits Foto der rote Apfel …», so heißt die Legende zu der Abbildung auf Seite 48. Das klingt sehr beiläufig, doch was der Leser hier wahrnimmt, ist nicht weniger als eine Chiffre für die geheime Mitte von Kurtágs Schaffen, für dessen Nukleus. Auf einer Marmortreppe liegend, markiert der Apfel nämlich «jenen Punkt, der wichtig ist» (S. 47), jenen Augenblick, in dem sich das schöpferische Suchen, das Ertasten und Finden, das Auswählen und Verwerfen nach langen und quälenden Zweifeln doch noch zur Entscheidung, zur Setzung verdichtet: Jedes Opus eine schwere Geburt. Dann aber, einmal ans Licht gekommen, liegt es wie eine schöne Frucht auf den besonnten Stufen, die gleichsam ad parnassum führen.
Der Weg dorthin ist steinig. Er führt durch eine Lebens- und Schaffenskrise, in der die Psychologin Marianne Stein dem Komponisten beisteht und ihm hilft, seinen flagellantischen Zug, seine mönchische Demut und seine beispiellose Selbstkritik von innen her zu bejahen und in ihnen die Voraussetzungen eines ganz und gar singulären Schaffens zu erkennen. Dieses Schaffen ist dem Zweifel abgerungen, der indessen nicht ausgelöscht wird, sondern in sublimierter Gestalt den Werken selbst eingeschrieben bleibt. «Bist du gläubig?», fragt ihn der Freund und Musikpublizist Bálint András Varga (S. 144). «Ich weiß nicht», lautet die Antwort. Sie findet sich an vielen, auch weniger «existenziellen» Stellen der drei hier veröffentlichten Gespräche, die zum Eindrucks­vollsten gehören, was bisher über Werk und Vita György Kurtágs zu erfahren war. Dass in seinem Fall keine De­markationslinie zwischen Leben und Schaffen gezogen werden kann, weiß Varga mit behutsamen Fragen und auf der Grundlage einer langen und tiefen Freundschaft mit György und Martá Kurtág zu belegen.
Entstanden vor dem Hintergrund der offenen Frage nach dem Sinn und der Endlichkeit menschlichen Lebens, verweisen schon die Werktitel der «Hommagen», «Zeichen», «Spiele, «Bot­schaften», «Inschriften» und «Ste­len» auf die condition humaine, die, wie die ausführliche Deutung von … concertante … für Violine (auch stum­me Violine), Viola (auch stumme Viola) und Orchester op. 42 (S. 122 ff.) belegt, auch in menschlichen Emotionen ihren Ausdruck findet. Klingt in dieser Innenschicht der Werke ein großes «Ecce homo!» mit, so in der äußeren Form des Fragmentarischen, Unabgeschlossenen, Offenen die Einsicht, dass unser Tun immer Stückwerk bleiben muss. Und dennoch: Kurtágs Musik vermag in nur wenigen Tönen den ganzen Kosmos menschlichen Daseins abzubilden. Die kleine Geste konzentrierter Momentaufnahmen von unerhörter Kraft und Tiefe ist das Wasserzeichen seiner Texturen, die damit nach Kurtágs eigenem Bekunden auf die Geistesverwandten Webern und Beckett verweisen.
Einfühlsam deutet Varga mit ei­nem Katalog von «Schlüsselwörtern» (Pause, Stille, esitando/disperato, Chaos, Wahnsinn, Abschied, Herzschlag, gehetzt / getrieben [S. 52 ff.]) Kurtágs Komponieren als «Ars quaerendi», als eine Kunst, die fragend / sich befragend unterwegs ist. Dass das Schrifttum zur neuen Musik andererseits mit dem vorliegenden Buch reicher geworden ist, ist das Beste, was sich über diese in allen Belangen vortreffliche Publikation sagen lässt.

Peter Becker