Earle Brown – A Life in Music, Vol. 4

New Music for String Quartet / New Music for Chamber Orchestra / The Hamburger Kammersolisten

Verlag/Label: 3 CDs, Earle Brown Contemporary Sound Series bei Wergo WER 6937 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Nachdem der vor geraumer Zeit vorveröffentlichte fünfte Teil mit der illustren Sonic Arts Union ein ausgesucht amerikanisches Avantgarde-Programm vorstellte, steht nun die spätserielle Mu­sik Darmstädter Prägung im Fokus der verdienstvollen Earle Brown-Edition von Wergo. Das heißt aber ganz und gar nicht, dass der Inhalt von Vol. 4 ein monothematischer wäre. Zum einen zeigte sich die (neue) Musik am Ende der 1950er Jahre kaum weniger vielfältig als heute; zum anderen beweist auch diese Auswahl einmal mehr, was für ein feines Händchen der «Kurator» Earle Brown besaß. Deswegen wohnt diesen «Feldaufnahmen» aus der Blütezeit der neuen Musik weit mehr als nur historischer Wert, sondern ein ganz eigener Zauber inne.
Das könnte kaum eindrucksvoller zu Tage treten als in der fesselnden Aufnahme des Quatuor Parrenins von Pierre Boulez’ frühem Meisterwerk Livre pour quatuor (1948/49), das man bei aller Nähe zu Anton Webern eine Sternstunde der offenen Form nennen darf. Aus den potenziell neun Kapiteln, die beliebig auswähl- und zusammensetzbar sind, konstituieren vier Abschnitte (Ia, Ib, II, V) hier ein Formgefüge wie aus einem Guss, musiziert mit größter Präzision und Poesie. Das auffallend «war­me», verblüffend «authentisch» digitalisierte Klangbild, das die gesamte Reihe auszeichnet, erscheint hier mit besonderer Intimität. Eigentliche Kostbarkeit der «Neuen Musik für Streichquartett» ist aber Scelsis viertes Quartett (1964). Selten hat man diese Musik so ungeschminkt fremdartig gehört wie in der Interpretation des Quartetto di Nuova Musica – als wäre dies das Mitbringsel eines Ethnologen aus einer vergessenen Ecke dieses Planeten! Verglichen damit klingt Browns eigener Beitrag zur Gattung auf der Suche nach der perfekten Mischung von Komposition und Improvisation fast akademisch.
Eine besonders ertragreiche Mischung, die viele bemerkenswerte Ensemblekompositionen beinhaltet, bietet die «Neue Musik für Kammerorchester» mit größtenteils Darmstädter Originalaufnahmen: Zum Beispiel der polyphone Dschungel von Iannis Xenakis’ Achorripsis (1956/57), dessen Neigung zum Tumult von Bo Nilssons Szene III (1961) unter Einsatz entfesselter Perkussion ins vollendete Chaos gesteigert wird. Domestizierte Dodekaphonie hört sich anders an! Bemerkenswert auch Yuji Takahashis Six Stocheia (1965), eine mikrotonale Klangskulptur für Violine(n) von Lachenmann’schem Feinschliff (Paul Zukofsky auf vier Spuren) und nicht zu vergessen: Wlodzimierz Kotonskis Canto, das 1961 beinahe klingt wie ein früher Rihm, nicht nur was die vielen ab­rupt wegbrechenden Crescendi betrifft.
Heute nahezu unbekannte Komponisten ruft die CD der «Hamburger Kam­mersolisten» mit Stücken von Mil­ko Kelemen, Niccolò Castiglioni, Vittorio Fellegra und Isang Yun in Erinne­rung. Sie präsentieren unterschiedlichste serielle Aggregat­zustände zwischen hek­tischer Betriebsamkeit und lyrischer Melancholie (sehr spannend in dieser Hinsicht Castiglionis Tropi) oder beschwören das expressive Melos Alban Bergs (Yuns Musik für sieben Instrumente). «Herz und Hirn» in wundervoller Balance …

Dirk Wieschollek