Milan Kundera
Eine Begegnung
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Das literarische Schaffen des seit 1975 in Frankreich lebenden tschechisch-französischen Romanciers Milan Kundera ist ohne Musik undenkbar. Bei der Lektüre seiner Romane Der Scherz, Das Buch vom Lachen und vom Vergessen, Die Unsterblichkeit sowie seiner Essaysammlungen Die Kunst des Romans und Verratene Vermächtnisse kommen Musikinteressierte auf ihre Kosten. Kundera pflegt zu betonen, seine Bücher würden nicht geschrieben, sondern komponiert. Auch seinen neuesten Essayband Eine Begegnung hat Kundera musikalisch aufgebaut: in Form einer neunteiligen Komposition. In Beethovens Klaviersonaten op. 106 und op. 110 entdeckt er den Traum von einer großen Synthese der gesamten europäischen Musik, den später Strawinsky und Schönberg erfüllten.
Als erfahrener Musikkritiker geht Kundera auf schwerwiegende politische Themen ein: Einerseits kämpfe man dafür, dass Mörder nicht vergessen werden, andererseits solle das größte Denkmal, das die Musik dem Holocaust gesetzt hat, nämlich Arnold Schönbergs Oratorium Ein Überlebender aus Warschau, in Vergessenheit geraten. Die russische Invasion 1968, als die Tschechoslowakei «von einer anderen Zivilisation verschluckt wurde», bleibt für Kundera im Zusammenhang mit «brutaler» Musik von Iannis Xenakis weiterhin aktuell. Seine Distanzierung von Tschaikowskys kitschiger russischer Sentimentalität ist bekannt. Da Sentimentalität nichts anderes bedeute als einen «der Brutalität aufgesetzten Überbau», ist die «lärmende Welt» in den Kompositionen von Xenakis für Kundera «Schönheit» geworden: «die vom affektiven Schmutz reingewaschene, von der sentimentalen Barbarei freie Schönheit».
Milan Kundera, 1929 in der mit Leo Janácek eng verbundenen mährischen Stadt Brno (Tschechoslowakei) geboren, Sohn des Musikwissenschaftlers, Pianisten und eines der wichtigsten Interpreten von Janáceks Klavierwerken Ludvík Kundera (1891-1971), beschäftigte sich bis zu seinem 25. Lebensjahr mehr mit Musik als mit Literatur. Das Komponieren hat ihm der 1944 im KZ Theresienstadt ums Leben gekommene Pavel Haas beigebracht, einer der besten Schüler von Janácek. Die wichtigste «Begegnung» findet mit Leo Janácek selbst statt. Dessen Oper Das schlaue Füchslein rückt Kundera ins richtige Licht als «die nostalgischste aller Opern». In seinem vor einigen Jahren im Programm der Pariser Oper erschienenen Essay macht Kundera uns darauf aufmerksam, dass der Übersetzer von Janáceks Libretti ins Deutsche, Max Brod, versuchte, Janácek zu kitschigen Umschreibungen seiner Oper zu überreden. Janácek gab nicht nach. Die wenigen Interpreten im Ausland, die bereit waren, dies zu respektieren, sind nach Kundera die Dirigenten Sir Charles Mackerras und Pierre Boulez, das Alban Berg Quartett und der Pianist Alain Planes.
Es ist empfehlenswert, Kunderas Buch in der autorisierten französischen Originalfassung zu lesen (Une rencontre, Editions Gallimard, Paris 2009). Allerdings trägt die deutschsprachige Ausgabe dazu bei, dass Kundera nicht nur als Autor des weltberühmten und verfilmten Romans Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins betrachtet wird, sondern auch als Musikwissenschaftler, wie es in Frankreich und in den USA der Fall ist.
Ale Knapp Kis