Adams, John
El niño
Peter Sellars ist ein Regisseur, der sich schon mehrfach für Werke mit religiösem Hintergrund stark gemacht hat, angefangen bei der Inszenierung von Messiaens St. François dAssise 1992 in Salzburg bis hin zu Tschaikowskys Iolanta 2012 in Madrid. Zusammen mit John Adams hat er auch das Libretto zu dessen Bühnenstück El niño verfasst und das Werk am Pariser Théâtre du Châtelet inszeniert.
Das Thema von El niño ist die Weihnachtsgeschichte von der Verkündigung bis zur Flucht nach Ägypten. Adams und Sellars machen daraus eine Mischung aus Oper und geistlichem Spiel mit starken filmischen Anteilen. Das macht einen außerordentlich durchdachten Eindruck und ist attraktiv für die Wahrnehmung. Doch die Darstellung des Stoffs weckt gemischte Gefühle. Ist es Kitsch auf sehr hohem Niveau oder der mutige und in den besten Momenten durchaus ernst zu nehmende Versuch, das in unserer areligiösen Gegenwart schwer zu vermittelnde Wunder von der Menschwerdung Christi mit den heutigen, geheimnislosen Mitteln und Darstellungsformen nachzuerzählen?
In der Aufzeichnung, die 2000 im Pariser Châtelet-Theater entstand, ist beides reichlich vorhanden. Einiges wirkt wie eine filmisch zubereitete Erweckungsbotschaft amerikanischer Evangelikaler, und der Schluss, der dramaturgisch durchhängt, weckt mit seinem Kindergesang und der Baum- und Wassersymbolik, realistisch verschnitten mit einem Video von der schlafenden Mutter mit Kind hinter einer verregneten Autoscheibe, Erinnerungen an kalifornische New-Age-Romantik aus alten Hippie-Tagen. Doch was Werk und Inszenierung, die hier eine enge Verbindung eingehen, auf eine diskussionswürdige Ebene hebt, ist die unbestreitbare Professionalität, mit der Adams und Sellars ihr Gemeinschaftswerk geplant und ausgearbeitet haben. Mit eigenen und fremden Texten aus der Bibel über Hildegard von Bingen bis zur Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral und zur mexikanischen Feministin Rosario Castellanos haben sie eine Erzählung konstruiert, die durch Brüche kunstvoll gegliedert ist. Die Bühnendarsteller von Maria und Josef treten aus ihren Rollen immer wieder hinaus und werden zu Erzählern ihrer eigenen Geschichte. Die Rollen sind außerdem auf mehrere Schauspieler aufgeteilt, die teils auf der Bühne, teils stumm im Film oder als Tänzer agieren. Ein Ensemble von drei Sängern fungiert als eine Art Evangelist; die Interpreten dieser schwierigen Dreifachpartie sind Mitglieder des von Paul Hillier geleiteten Ensembles Theatre of Voices. Abstrakte Bildsymbolik, Alltagsszenen und opernhafte Situationen werden ineinandergeschnitten, Tanzeinlagen und Videoprojektionen erweitern die Theaterrealität zum Multimedia-Kunstwerk.
Das alles ist technisch auf höchstem Niveau angesiedelt und präzis aufeinander abgestimmt. Für die DVD-Fassung sind Bühnenaufzeichnung und Videozuspielungen neu zusammenmontiert worden, sodass eine genuine Bildschirmversion entstanden ist. Das stabile Fundament zum Geschehen liefert Adams Musik. Sie ist wandlungsfähig und stets szenenbezogen, ohne in vordergründigen Illustrationismus abzugleiten. Ihre Bühnenwirksamkeit wird von den hervorragenden Interpreten nachhaltig bestätigt. Der Gesamteindruck dieser merkwürdigen Weihnachtsgeschichte bleibt indes ambivalent.
Max Nyffeler