Esch, Rüdiger

Electri-city

Elektronische Musik aus Düsseldorf

Verlag/Label: Suhrkamp, Berlin 2014
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 95

Durch das Studio für elektronische Musik des WDR und Karlheinz Stockhausen hat Köln den Ruf, eine Stadt der elektronischen Musik zu sein. Jetzt macht ein Buch der Domstadt den Titel streitig, indem es die Nachbarstadt Düsseldorf zur bundesdeutschen Hauptstadt der elektronischen Musik erklärt. Autor Rüdiger Esch begründet seine These mit der dort beheimateten Gruppe Kraftwerk, die heute als Urväter von Elektropop und Techno gelten.
Eschs Interviewband lehnt sich an den 2001 erschienenen «Doku-Ro­man» von Jürgen Teipel Verschwende Deine Jugend an, der sich um die bundesrepublikanische Punk- und New-Wave-Szene drehte. Zahlreiche Interviews mit mehr oder weniger bedeutenden Akteuren werden zu imaginären Rundgesprächen collagenhaft zusammengefügt und chronologisch geordnet. Daraus erwächst mosaikartig die bunte Historie der Düsseldorfer Szene von 1970 bis 1986 in Augenzeugenberichten, wobei je­dem Jahr ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Als Aushängeschild firmiert die Gruppe Kraftwerk. Die Band, die mit Jazzrock begann und sich dann dem elektronisch-minimalistischen Popsong zuwandte, hat es als einzige Düsseldorfer Formation zu weltweiter Bedeutung gebracht.
Leider geben die beiden Gründer von Kraftwerk – der heutige Alleinherrscher Ralf Hütter und sein ehemaliger Kompagnon Florian Schneider – kaum Interviews und haben auch Esch die Mitarbeit verweigert. Auskunftsfreudigere «Sidemen» wie Karl Bartos und Wolfgang Flür springen ein, die als Musikangestellte jahrelang bei Kraftwerk gearbeitet haben und über Insider-Wissen verfügen. Doch ein vollwertiger Ersatz sind sie nicht.
Für die diversen Gruppen aus dem Kraftwerk-Umfeld sprudeln die Quellen dagegen reichhaltiger. Da Rüdiger Esch (Bassgitarrist der «Krupps») einst mit dem ehemaligen Kraftwerk-Drummer Klaus Dinger (2008 verstorben) in einer Band gespielt hat, konnte er viele Interna über Formationen wie «Neu!» und «La Düsseldorf» in Erfahrung bringen, die Dinger nach seinem Kraftwerk-Intermezzo aus der Taufe hob. Von solchen Kraftwerk-Ablegern über Vertreter der Neuen Deutschen Welle wie «Rheingold» und DAF?(«Deutsch-Amerikanische Freundschaft») bis zu elektronischen Gruppen wie «Der Plan», «Die Krupps» und «Propaganda» zieht Esch eine direkte Linie, die in der Formel von Düsseldorf als «Electri-City» mündet: die bundesrepublikanische Hauptstadt elektronischer Klänge!
Köln wird das wegen Stockhausens WDR-Studio nicht gefallen, ebenso wenig München und Berlin. Die bayrische Landeshauptstadt kann mit Eberhard Schoener, Popol Vuh und Georgio Moroder ebenfalls einige Pioniere der elektronischen Moderne vorweisen, während die Bundeshauptstadt immer an vorderster Front der elektronischen Musikentwicklung stand und mit Klaus Schulze und «Tangerine Dream» international bedeutende Akteure und mit «Berlin Techno» sogar eine eigenständige Stilrichtung hervorgebracht hat. Selbst das Trautonium wurde dort erfunden. Deshalb dürfte an Rhein, Isar und Spree Rüdiger Eschs Anspruch als lokalpatriotische Übertreibung zurückgewiesen werden.
Christoph Wagner