Widmann, Jörg

Elegie

Messe für großes Orchester / Fünf Bruchstücke für Klarinette und Klavier / Elegie für Klarinette und Orchester

Verlag/Label: ECM New Series 2110
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Kann man heutzutage noch eine Messe komponieren? Jörg Widmann hat es getan, vorsichtshalber aber mal die Worte weggelassen. Seine Messe wird nicht gesungen, eher geradebrecht, und zwar vom großen Orchester allein, 2005 von den Münchener Philharmonikern unter Christian Thielemann aus der Taufe gehoben, die das Werk auch in Auftrag gegeben hatten.
Am Anfang kommt man sich trotzdem vor wie im falschen Film. So übertrieben geht es ohne Vorankündigung im «Introitus» in die Vollen, als wäre das ein spätromantisch verseuchter Bach in schlechter Tonqualität. Aber das Pathos, das hier zur Schau gestellt wird, ist dumpf und hilflos und gleich in Dissonanzen ertränkt. Zwar orientiert sich Widmann im Groben an der Form traditioneller Messkomposition, aber alles Folgende schürt erst recht düstere Zweifel, als dass es Glaube und Hoffnung herausposaunt. Die Kluft zwischen den (nicht anwesenden) Worten und dem, was wir hören, wird hier Thema. Und so zerfällt diese Messe schon im «Kyrie» immer mehr ins Fragmentarische: verwischte Konturen, isolierte Instrumentalstimmen, eisige Höhen, man würde sich nicht wundern, wenn im nächsten Moment eine Mahler-Passage auftauchte.
Besonders prägnant die minimalistisch instrumentierten «Interludien», die das Geschehen endgültig in eine Atmosphäre tastender Verlorenheit ziehen. Am Ende, in der brachialen Schlussapotheose des «Et Resurrexit», muss sich Widmann jedoch fragen lassen, ob nicht auch das Abgründige zu dick aufträgt. Ein widersprüchliches Stück, das die Vergeblichkeit der Konzeption direkt ins Werk holt, an seiner Widersprüchlichkeit aber auch hörbar leidet …
Scheinbar das genaue Gegenteil zur monumentalen Orchesterliturgie: Fünf Bruchstücke für Klarinette und Klavier (1997). Die fünf Miniaturen demonstrieren nicht nur Widmanns Nuancenreichtum als Solist, sondern präsentieren einen unerwarteten Dialogpartner: Heinz Holliger ist hier erstmals am Klavier zu hören! Zwei Ausnahmemusiker horchen hier tief in jedes Detail und vor allem aufeinander, was diese expressionistischen Kleinode, die ohne jede solistische Eitelkeit daherkommen, besonders adelt.
Die Elegie (2006), Widmanns erstes «Klarinettenkonzert», erweist seinem Titel schließlich mit Nachdruck die Ehre. Ein langer Gesang auf der A-Klarinette in nächtlichen Farben, der an den Rand des Verstummens geraten kann, im nächsten Augenblick mikrotonale Mäander in Fluss bringt und ganz fein ausgehörte Interaktionen mit dem (zumeist kammermusikalisch eingesetzten) Orchester bietet. Glänzend gespielt von allen …
Dirk Wieschollek