Herrmann, Arnulf

Ensemblestücke

Verlag/Label: Wergo WER 65762
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Arnulf Herrmann, 1968 in Heidelberg geboren, ist kein radikaler Bilderstürmer. Materialschlachten zu schlagen, nur um so der Auseinandersetzung mit der Tradition der abendländischen Kunstmusik zu entgehen, ist nicht seine Sache. Doch das Etikett «postmodern» wird an seinen Klang-Raum-Studien sicherlich nicht haften. Denn den willfährigen Diener neokonservativer Strömungen gibt Herrmann eben­so wenig.
Sein kompositorisches Handwerkszeug hat Herrmann bei sehr verschiedenen Lehrern sorgfältig erarbeitet. So ist seinen Werken eingeschrieben, dass er bei Gérard Grisey die Kunst des Spektralismus in ihrer reinsten Form kennen gelernt hat; dass er in Emmanuel Nunes auf einen Kompositionslehrer traf, der die objektive Konstruktion genauso hoch­hält wie das subjektive Espressivo, der es wagt, Klang-Landschaften vor dem Ohr auszubreiten, in denen schrof­fe rhythmische und dynamische Kontraste die poetische Grundsubstanz bilden. Herrmann nun stochert zunächst erst einmal im traditionellen Fundus. Was ihm auf die Pike kommt, unterzieht er dann in Serien kompo­sitorischer Versuchsanordnungen musikalischen Här­tetests. Dass der mu­sikalische Stoff danach ein anderer
ist, versteht sich von selbst; dass die Schieflage für Herrmanns Werke die Normallage ist, auch. Hinweise darauf gibt der Komponist schon in den Titeln. Der Hörer darf immer das erwarten, was die Titel suggerieren.
Exemplarisch lässt sich das an dem kleinen Zyklus Fiktive Tänze, Erster Band (2008) darstellen. Tanzen lässt sich in diesen Tänzen mit Titeln wie «Gerader Tanz», «Verlangsamter Tanz», «Kurzer Rausch», «Auszeit» und «Schwieriger Tanz» erwartungsgemäß nichts mehr. Stattdessen werden abstrakt anmutende Porträts von Tänzen gezeichnet. Im «Geraden Tanz» exponiert Herrmann ein Bewegungsmodell, zusammengesetzt aus zwölf Vierteln, das in einer schier endlosen Wiederholungsschleife rhythmisch-melodisch völlig derangiert wird. Auf die Spitze treibt Herrmann dieses System im «Schwierigen Tanz». Alle rhyth­misch-metrischen Regeln werden sukzessive außer Kraft gesetzt und münden schließlich in dem Paradox der geordneten Unordnung.
In dem Opus Monströses Lied für Soloklarinette, kleines Ensemble und Elektronik (2007) treibt Herrmann die Konfrontation von irregulären mit regulären metrisch-rhythmischen Abläufen so lange mit spielerischem Furor voran, bis die musikalische Situation am Ende des ersten Satzes ins Groteske kippt und abrupt von zunächst ruhig schillernden Melismen des zwei­ten Teils abgelöst wird. Wenn man so will, ist jede der auf dieser CD versammelten Kompositionen Ausdruck von Herrmanns virtuoser Klang-Bewegungs-Fantasie. Aus den Objets trouvés der Musikgeschichte montiert Herrmann musikalische Organismen, die unversehens eine verblüffende Eigendynamik entwickeln, hier brillant vor Ohren geführt von Ensemble Modern, geleitet von Franck Ollu und Johannes Kalitzke.

Annette Eckerle