Hurt, Leopold

Erratischer Block / Dead Reckoning / August Frommers Dinge / Seuring | Schalter

Verlag/Label: WERGO, Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, WER 64102
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Der Deutsche Musikrat porträtiert auf seiner neuesten Veröffentlichung der «Edition Zeitgenössische Musik» den 1979 geborenen Zitherspieler und Komponisten Leopold Hurt. Bei den Werken Erratischer Block (2006) und Seuring | Schalter (2011–12) tritt Hurt in Personalunion von Interpret und Komponist in Erscheinung, kongenial begleitet von Klangkörpern wie dem Berliner ensemble mosaik und den Philharmonikern Hamburg unter der Leitung von Simone Young. Dead Reckoning (2012) wird vom Ensemble Resonanz interpretiert; für die Einspielung des Streichtrios August Frommers Dinge (2008) konnte das Mondrian Ensemble Basel gewonnen werden.
Die gemeinsame Idee der höchst unterschiedlich besetzten Kompositionen ist dabei der Prozess. Die Stücke sind verhaftet im Dazwischen, sie sind nie aufgebrochen und werden nie ankommen: Transit als Prinzip. Diffuse Anfangs- und Endpunkte bilden dabei jeweils eine Grundinspiration oder die Imagination einer von ihr ausgehenden Rezeptionsgeschichte; eine außer Kraft gesetzte Chronologie verleiht beidem Gleichwertigkeit. Durch den effektvollen Einsatz unterschiedlicher objects trouvés – mal sind es Ton- oder Filmaufnahmen, mal kompositorische Verfahren – stellt Hurt somit die Frage nach Tradition, nach ihrer Legitimität und Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die vermeintliche Unvereinbarkeit von Volksmusik und Avantgarde.
Auf die Irritation, welche die Zither im Kontext «ernster» Musik beständig auslöst, reagiert Hurt mit ei­nem Werk wie Erratischer Block. Der Titel ist der Geologie entlehnt und bezeichnet einen vereinzelten Findling. Während sich allmählich die alte Schellack-Aufnahme eines bayrischen Ländlers aus dem mikrotonalen Gewebe des Ensembles schält, fügen sich die beschädigten Gesänge mit ihrem hohen Geräuschanteil befremdlich gut ins Klangbild. Was also ist nun der Findling, die Abweichung von der sie umgebenden Norm? Der Prozess als offene Frage.
Aus einer Dokumentation über das Leben des Forschers August From­mer zieht Hurt die Inspiration für sein Stück August Frommers Dinge. Frommer lebte asketisch in einer Dachkammer im oberbayrischen Wasserburg am Inn, wo er sich der Konstruktion eines Perpetuum mobile verschrieben hatte – ein Prozess, der unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist. Hurt fertigt sein Streichtrio als klaustrophobischen Eindruck der Kammer, die Frommers Wirkstätte war, und in die «im Verlauf des Stückes immer mehr Dinge hineingetragen» werden. Blöcke aus Stille, die das immer geschäftiger werden­de Geschehen umranden, wirken als stum­me Mahnmale der Vernunft. Am Ende behalten diese nur scheinbar das letzte Wort: Mag der Prozess auch ins Leere laufen, die Unbedingtheit seiner Utopie wirkt fort.

Patrick Klingenschmitt