Zenck, Martin / Markus Jüngling (Hg.)
Erzeugen und Nachvollziehen von Sinn
Rationale, performative und mimetische Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften
Das allgegenwärtige Reizwort «Sinn» provoziert einerseits die Frage nach dem Unsinn seines inflationären Gebrauchs im wissenschaftlichen Diskurs, wie es andererseits die Hoffnung auf eine Arche keimen lässt, auf der «die grassierende Sinnflut unserer Tage» (Odo Marquard) zu überleben wäre. Mit dem vorliegenden Band wird der Leser auf die Baustelle für ein solch rettendes Gefährt eingeladen, die er nach gründlicher Besichtigung mit neuem Mut wieder verlassen kann: Land in Sicht.
Was sich hier zwischen zwei Buchdeckeln niedergeschlagen hat, sind die Früchte eines interdisziplinären und komparatistisch an den Künsten orientierten Kongresses an der Universität Bamberg. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, die Beiträge nicht in chronologischer Reihenfolge (gleichsam als Daumenkino) zu lesen, sondern sich von ihren subkutanen Verknüpfungen leiten zu lassen und damit die Grenzziehung zwischen den drei Sektionen schöpferisch zu unterlaufen.
Die Leseroute sollte mit dem inspirierten Vorwort beginnen, das ein mimetisches Verstehen zwischen den Künsten thematisiert. Die Präposition «zwischen» kann bei der weiteren Lektüre als Wegweiser fungieren. Sie führt dann zu «Klimts Beethoven, Beethovens Schiller Zum Verstehen zwischen den Künsten» und zu Claude Debussys und Victor Segalens Opernprojekt Orphée-Roi, alsdann zu der Frage nach der Sinnlichkeit der Sinnstiftung in der künstlerischen Praxis von Arnulf Rainer und Carlfriedrich Claus, zur Suche nach reziproken Sinnschichten in den Celan-Bildern von Anselm Kiefer und zur Henze-Rezeption in der Poetik von Ingeborg Bachmann.
Die «Einleitung zu den drei Sektionen» führt zu einer Werther-Exegese, zur Reflexion über eine prominente Wahlverwandtschaft (Thomas Mann/James Joyce), zu «Inszenierungen des (Nicht-)Verstehens in zeitgenössischer Hörkunst» und zur Dichotomie von Verstehen und Nichtverstehen in Strawinskys Sonate pour piano. Der «Versuch zum Verstehen [Theater]» und der Beitrag «Nichtverstehen. Zu einem zentralen posthermeneutischen Motiv» berufen sich auf die Referenzen Jacques Derrida bzw. Roland Barthes, die Reflexion über Georges Perecs W ou le souvenir denfance auf Wilhelm Dilthey. Erhellend (wie alle Beiträge!) die Spurensuche nach einer spezifisch literarischen Performativität in Brechts widerständigem Fatzer-Fragment und unter Berufung auf Henri Meschonnic die Reflexion über Gustav Mahlers Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen. Im Schatten des Holocaust werden Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Anselm Kiefer und Luigi Nono enggeführt, während aus der Sicht der Exilforschung die Frage nach der Alterität des Eigenen gestellt wird.
Summa: ein ebenso facettenreiches wie faszinierendes Spektrum, in dem unter der Devise «Fremdes näher bringen
» auch eine Brücke zur Musikpädagogik geschlagen wird. Dass abschließend «Performatives Verstehen durch histrionische Darstellung: Liebe in der Vorlesung» thematisiert wird, lässt den Leser noch einmal das Bild von der Arche assoziieren, zu der die Taube diesmal ganz offensichtlich mit einem Myrtensträußchen unterwegs ist.
Peter Becker