Seither, Charlotte

Essay on Shadow and Truth

Orchester- und Kammermusik

Verlag/Label: edition zeitklang ez-45043
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 98

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Charlotte Seither macht es sich nicht leicht. Jedes ihrer Stücke auf der vorliegenden CD ist in einem Kompositionsprozess entstanden, der auch und gerade in der distanzierten Beschreibung durch die Komponistin paradox anmutet. Nach der Lektüre von Sei­thers Essay «Schatten und Wahrheit. Aufspaltung im kompositorischen Prozess» lässt einen deshalb die Fülle ihres Œuvres einfach nur noch staunen. Seithers erster Arbeitsschritt führt sie in einen Raum, den sie als «dritten Ort» beschreibt, als etwas von hoher emotionaler Wertigkeit, das es aus einem unbestimmten Dunkel zu lösen und irgendwie auf das weiße Papier zu ziehen gilt. Diesen spannenden, aber nicht unbedingt Erfolg garantierenden Prozess, den sie jenseits rationaler Kategorien verortet, ist ihr unabdingbare Voraussetzung. Nur so kann sie das erreichen, was sie als die «Wahrheit der Unschärfe», als die «Wahrheit des Schattens» beschreibt. In diesem Prozess gewinnt sie das ureigenste Elixier für jedes ihrer Werke.
So gesehen, scheint Charlotte Sei­ther eher Klangwissenschaftlerin denn -künstlerin zu sein. Doch die Lust, mit der sie die gefundenen Klangmaterialien in hochenergetischen Crashs in neue Formen zwingt, fern von deren ursprünglicher historischer Konnotation, spricht eine andere Sprache. Jede der Kompositionen, um die es hier geht, entstanden in den Jahren 2000 bis 2007, mag dafür als Beispiel gelten: Living gardens für 19 Spieler (2002/ 2003) ist eine sorgfältige Geräusch-Ton-Soundcollagen-Studie – brillantes Abbild eines organischen, scheinbar wild wuchernden Prozesses (Ensemble Modern, Leitung: Kasper de Roo). In Gran passo für Klavier (2006), entstanden als Auftragswerk für den Concours Clara Schumann, justiert Seither in Auseinandersetzung mit der Mechanik des Instruments die Klangebenen neu. Bisweilen ist es für das Ohr kaum kenntlich, ob die Pianistin (Susanne Achilles) gerade im Innenraum oder auf der Tastatur der alles bewegenden Rhythmuszelle, die eine Schumann’sche Allusion ist, nachspürt.
Herzfalter für Tenor und Klavier (2000), das älteste hier vertretene Stück, ist geprägt von einer Nach-innen-Gewandtheit, von einem lyrischen Ges­tus, der wie von ferne sich an die bittersüße Schönheit des Madrigals eines Claudio Monteverdi erinnert. Essay on Shadow and Truth für Orchester (2007; Niederrheinische Sinfoniker, Leitung: Graham Johnson) ist einerseits das Stück, in dem Seither vor dem Hintergrund ihrer Arbeitshypothese die größten Materialmengen bewegt, dennoch schlägt sie keine Materialschlacht. Was als Allusion bisweilen mitschwingt, wird in dem fast halbstündigen Klangstrudel von sensibel gewichteten Klangvaleurs behutsam mitgespült oder rabiat mitgerissen und dabei weiter zermahlen. Corps croisé (2002) für Streichquartett (Auryn Quartett), als Studie mit dem B-Dur-Streichquartett von Beethoven als vordefiniertem dritten Ort konzipiert, führt vor Ohren, dass Charlotte Sei­ther weder rasende Bilderstürmerin noch ehrfürchtige Epigonin ist. Die Begriffe «Dissoziation» und «Synthese» haben bei ihr einen im wahrsten Sinne des Wortes eigenen Klang.
Annette Eckerle