Rihm, Wolfgang

ET LUX für Vokalensemble und Streichquartett (2009)

Verlag/Label: ECM 2404
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 74

Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 5

Booklet: 5

 
Diese CD-Edition ist in jeder Hinsicht ein Juwel. Die monochrom aufgeraute Grisaille des Covers von Mayo Bucher, die sensiblen Booklet-Texte von Wolfgang Schreiber und Paul Griffiths sowie die exzellent geführte Klangregie setzen Wolfgang Rihms monumental-meditativen Einstünder ET LUX kongenial in Szene – und es darf, ultimus at non minime, als ein Glücksfall bezeichnet werden, dass mit dem Huelgas Ensemble und dem Minguet Quartett zwei herausragende Formationen unserer Zeit für diese Produktion gewonnen werden konnten, deren Spezialistentum sich in der Synthese gleichsam transzendiert und aufgeht in etwas Drittem, Anderem, Unerhörtem. Wie im Falle der Uraufführungsinterpreten Hilliard Ensemble und Arditti Quartet scheint auch jetzt die tiefe Verankerung der Musizierenden in Alter Mu­sik bzw. der musikalischen Avantgarde der Interpretation von ET LUX in besonderer Weise Flügel zu verleihen – eine intime Vertrautheit mit vokalpolyphonem Melos hier und dem Nuancenreichtum instrumentalen Ausdrucks dort, die Rihms so betörender wie beklemmender Erinnerungskunst eine Dringlichkeit, Dichte und Spiritualität verleiht, wie sie in der Gegenwartsmusik derzeit nicht oft zu finden sein dürften.
Anamnetisch-analytisch ist Rihms Zugang zur römischen Requiem-Liturgie. Die Worte suchen einstigen Zusammenhang, den sie nicht mehr finden können. Als Fragmente projiziert sie Rihm in einen Klangstrom, in dem sie in Verrückungen, Verschiebungen und Überblendungen mal merkwürdig aufleuchten, mal fremdartig widerhallen, bevor sie untergehen. Die acht Musiker des Huelgas Ensembles, die Rihms ursprüngliche Vokalquartett-Besetzung ohne jede Einbuße an Intimität verdoppeln, bringen diese Erinnerungssplitter in wundersamer Archaik und Kargheit zum Vorschein und entlocken ihnen noch auf kleinstem Raum Deutlichkeit, noch in ihrer Versehrtheit Beredtheit, Dringlichkeit und Bedeutung. 
Die instrumentalen Zwischenspie­le, in die die Textabschnitte im­mer wieder wegbrechen oder sich auflösen, erscheinen so als notwendiges Korrelat, als Echokammern, in denen die vorangegangenen Entwicklungen und Verdichtungen auf bezwingende Weise resonieren. Zumal in der Ausführung durch das Minguet Quartett werden diese tief nach innen horchenden Intermezzi zum Ereignis, zu ebenso vehement wie inständig bohrenden monologues intérieurs, in denen die vielfach verschlungenen Stimmen des Quartetts oftmals wie eine einzige, eine voce intima klingen. Mit allen Mitteln nicht nur der Kompositions-, sondern auch der Interpretationskunst werden hier Grenzen ausgelotet und hörbar gemacht, die an die empfindlichsten Zonen unserer Erfahrungswelt rühren.
Dass sich Paul Van Nevel, der Huelgas-Gründer und Dirigent in dieser Aufnahme, bei aller Aufgerautheit der musikalischen Faktur für eine lichtdurchlässig-transparente Herangehensweise in fließender Bewegung, ja Bewegtheit entschieden hat, verleiht dieser ET LUX-Einspielung et­was von der Anmut mittelalterlicher Mater-Dolorosa-Darstellungen. Die Bewegtheit aber, die wir hören, ist unsere eigene.
Rafael Rennicke