Cage, John

Etudes Australes

Verlag/Label: Wergo WER 6740 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

John Cage legte seinen 1974 und 1975 entstandenen «Etudes Australes» Sternenformationen zugrunde. Allesamt stammen sie aus Himmelskarten der südlichen Hemisphäre, die einen ebenso natürlichen wie unerschöpflichen Vorrat für Cages Konzept der «Praktikabilität der Anarchie» geben. Viel ist geschrieben, viel ist analysiert, auch kritisiert worden an Cages Preisgabe kompositorischer Kontrolle und Entscheidungen. Zumindest eines aber muss man dem Amerikaner lassen: Er fordert den Interpreten heraus; einerseits dessen strategischen Umgang mit Gebilden, die nicht dem traditionellen Dramaturgie-Diktat gehorchen, andererseits aber auch dessen manuelle Virtuosität.
In den vier Bücher umfassenden «Etudes Australes» kommt beides zum Tragen. Nicht umsonst benutzte Cage den Begriff der «Landschaft» für die Etüden. Er entwirft statische Bilder im steten Wechsel von vereinzelten Tönen und wundersam vitalen Akkorden. Stumm gedrückte Tasten geben jeder Landschaft ihre eigene Note, öffnen je verschieden gefärbte Resonanzräume. Wahrlich hat Sabine Liebner alle Hände voll zu tun. Völlig isoliert sind rechte und linke Hand mit je eigenen Strukturen beschäftigt, obendrein überkreuzen sie sich ständig, dringen so gefährlich ein in ihre jeweiligen Territorien.
Sabine Liebner spielt die «Etudes Australes» phänomenal – dank wohlüberlegter zeitlicher Proportionierungen, aber auch dank eines grundsätzlich überzeugenden Interpretations-ansatzes: «Man sollte die Anstrengung spüren, denn hörbar werden soll der Kampf um das nicht Erreichbare. Zudem entsteht so eine bestimmte Energie für mich als Interpretin, die sich auf die Musik überträgt. Der Resonanzraum als kosmischer Raum muss auch sein Gewicht kriegen, ebenso der Moment der Stille.» Was Cage nicht leistet, was er nicht leisten will, das vermag Liebner, die sich in den letzten Jahren auf die «amerikanische Schule» um Earle Brown, Christian Wolff und Morton Feldman konzentrierte. Sie gibt der Musik Spannung, irrsinnige Intensität und Überzeugungskraft. Mehr als vier Stunden umfassen die vier Bücher mit je acht Etüden. Wenige werden im trauten Heim die Muße finden, alles in einem Stück zu hören. Lohnen jedoch würde es sich. Cages Konzepte lassen bildlichen Imaginationen ebenso großen Raum wie philosophischem Sinnieren. Liebners Klangsensibilität wiederum ist so faszinierend, dass sich an keiner Stelle Stereotypie, ergo Langeweile einstellt. Ein abschließendes Lob gilt den Tonmeistern und Toningenieuren aus dem Haus des Deutschlandfunks und der Booklet-Autorin Yvonne Petitpierre. Geschickt webt sie in ihren gehaltvollen Text Zitate von Sabine Liebner ein und bringt so auch textlich zum Ausdruck, was diese vier CDs zu einer besonderen Produktion macht: eine frappierende Ergänzung von Komponist und Interpretin als je eigenständige und herausragende Künstler. Nicht anders hat Cage es sich gewünscht.

Torsten Möller