Cage, John

Etudes Boreales / Harmonies / 10’40.3’’

Verlag/Label: Wergo WER 67182
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 89

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Mit der vorliegenden CD lässt der Cellist Friedrich Gauwerky seiner 2008 veröffentlichten Einspielung von John Cages Werken für Solocello eine Produktion folgen, die sich, unter Mit­wirkung des Pianisten Mark Knoop, der Duobesetzung von Streich- und Tasteninstrument widmet. Was dabei sofort ins Auge fällt, ist der sorgfältig überlegte Aufbau der Platte: In der Mitte findet sich – als einziges Solostück – mit 10’40.3’’ eine kurze Version von Cages legendärer Komposition 26’1.1499’’ for a string player (1955), flankiert von insgesamt vier der 44 Harmonies (1976) aus Apartment House 1776 sowie von zwei Fassungen der Etudes Boreales für Violoncello und/oder Klavier (1978).
Die unterschiedlichen musikalischen Konzeptionen dieser Werke treten beim Hören deutlich zutage und tragen viel zum Abwechslungsreichtum der Produktion bei: In den Harmonies sind die konventionellen Bausteine von Chorälen, vom Komponisten mittels Zufallsverfahren neu angeordnet, außerhalb ihrer satztechnischen Kontexte verwendet, so dass deren ursprüngliche Funktion ad absurdum geführt wird. Ergebnis ist eine fein, stellenweise auch nüchtern dargebotene Musik voller Brüche, in der das scheinbar Bekannte den Hörer permanent in die Irre führt, ihm aber zugleich auch so etwas wie einen roten Faden bietet, da die kurzen Stücke sehr geschickt alternierend zu den übrigen Kompositionen platziert sind. 10’40.3’’ fordert dagegen den Interpreten durch das Zusammenwirken ausgeklügelter, in gewissen Grenzen auch offener Notationsmomente: Gau­werky verleiht hier jedem noch so beiläufig erscheinenden Klang, jedem getupften Einsatz eine andere Nuance und vermittelt dadurch etwas von der enormen Konzentration, die ihm selbst bei der Umsetzung abverlangt wird.
In den vierteiligen Etudes Boreales schließlich erscheint Cages Notation zwar konventionell, streift mit ihren Anforderungen allerdings auch die Grenzen der Machbarkeit, was die beiden sehr unterschiedlichen Realisierungen im direkten Vergleich besonders interessant macht. So lässt sich zunächst Knoop mit einer Version «for a percussionist using a piano» hören, bei der er die Klangmöglichkeiten des Klaviers zumeist perkussiv erkundet. In der zweiten Version hingegen agieren beide Musiker gemeinsam, wodurch sich ein gänzlich anderer Eindruck von der Komposition ergibt. Aufschlussreich ist darüber hinaus ein Blick auf die Soloversion des Werks, die Gauwerky auf seiner früheren CD eingespielt hat, denn sie bringt eine weitere Facette an den Tag und unterstreicht, dass beide Produktionen eigentlich einen inneren Zusammenhang aufweisen. Deutlich wird dabei vor allem eines: Gauwerky hat in beiden Fällen – und diesmal pianistisch von Knoop unterstützt – mit seinen Cage-Interpretationen einen hohe Messlatte für kommende Einspielungen gelegt und so einen wichtigen Beitrag zur ernsthaften Auseinandersetzung mit dieser Musik geleistet.

Stefan Drees