Zimmerlin, Alfred

Euridice

Chamber Music

Verlag/Label: ECM New Series 2045
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 83

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

 

Keine Künstlergeneration, die sich den Mythos um Orpheus und Euridice nicht auf ihre Weise auslegte. Der gegenwärtige Zeitgeist hat Euridice in den Vordergrund des Interesses gerückt. Ihm zollen auch der Schweizer Komponist Alfred Zimmerlin und sein Librettist Raphael Urweider Tribut. Orpheus, der mit den Tieren zu sprechen verstand, habe den Schlangenbiss provoziert, um in den Hades zu gelangen und mit den Toten reden zu können – so ihr Verdacht. Euridice als Opfer männlichen Forscherdrangs. Angedeutet im vierten Abschnitt der gut halbstündigen ‹Szene› «Euridice singt». Nach Orpheus’ Bekenntnis: «Ich bin himmlischer Herkunft. Das wisst ihr selber. Ich verschmachte vor Durst», erscheint dort «in einer Art Schlangenbeschwörung» das «Lamen­to» des Beginns in Krebsgestalt, als falle das Unglück auf ihn zurück.
Mit Sopran (Euridice), Oboe (Or­pheus), Violoncello, Klavier und Zuspiel-CD sparsam besetzt, erweist sich die Miniatur-Oper als dünnhäutige Pathologie einer verletzlichen Liebesbeziehung. Sie steht gleichnishaft für das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk. Wie auch zur umgebenden Gesellschaft, hier vertreten durch den Chor (Soundtrack). Im zentralen, retrospektiven Liebesduett, dezent mit «Intermezzo» überschrieben, legt Orpheus sein Instrument beiseite. Ein Moment zum Luftanhalten: Beide berühren das Fell einer großen Trommel – Euridice mit flacher Hand oder eine Bürste reibend, Orpheus mit vibrierenden Stimmgabeln. Die Membran als Trommelfell im doppelten Sinn. Oder, wie der Dichter spricht: ein Nachthimmel, in dem sich die Liebe spiegelt.
1955 in Zürich geboren, wo er Musikwissenschaft und Ethnomusikologie studierte, zog Zimmerlin improvisierend durch die Lande, bevor er sich als Komponist entdeckte. Rilkes Duineser Elegien inspirierten ihn 2003 zu seinem 2. Streichquartett, dem er eine Sentenz aus der 9. Elegie beigab, die in zarten Glissandi und Pizzicati widerklingt: «mit kleinen Wellen an jedem Blattrand (wie eines Windes Lächeln)». Gegen Ende nähert sich das einsätzige Stück der Aura des Ada­gios aus Schuberts Quintett D 956. Das schweizerische Guggisberg­lied und eine Aria aus den Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber dienten ihm – als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses legitimiert – als Materialquellen für sein ansprechendes 1. Streichquartett (2001/02). Zimmerlin und seine feinen Interpreten hätten nördlich der Alpen größere Beachtung verdient.

Lutz Lesle