Patterson, Ben

event scores

hg. von Benedikt Stegmayer

Verlag/Label: Verlag für zeitgenössische Kunst und Theorie, Berlin 2013, 320 Seiten, 45 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 92

Köln und Düsseldorf, die beiden rheinischen Großstädte, deren Bewohner sich seit Langem und bis heute nicht gerade lieben, waren in den 1960er Jahren die Zent­ren der zu Dekadenbeginn einsetzenden intermedialen Kunst. Paik, Mary Bauermeister, Vostell, die im WDR-Studio für Elektronische Musik arbeitenden Komponisten um Stockhausen und Koenig, zudem Kagel, Helms und Metzger, aus den USA auch Cage, Tudor und Wolff, spätere Fluxisten wie Maciunas und Brecht, dann auch Beuys, präsentierten in verschiedenen Galerien und Ateliers der beiden Rheinmetropolen sowie in der Wuppertaler Galerie Parnass ihre neodadaistischen Artefakte und Manifeste oder waren stete Besucher dieser mit dem tradierten Kunstdenken brechenden Aktivitäten.
Seit dem 14. Juni 1960 gehörte auch der in Pittsburgh geborene Kontrabassist Ben Patterson, 26 Jahre alt, dazu. Er hatte an der University of Michigan studiert, als Afroamerikaner aber keine Anstellung in einem US-Orchester gefunden. Im benachbarten Kanada spielte die Hautfarbe indes keine Rolle und er spielte im Halifax Symphony Orchestra und Ottawa Philharmonic Orchestra, überdies experimentierte er mit elektronischer Musik. Das einzige Resultat war ein (später verschollenes) Tape Piece mit Sinustonloops, das er Stockhausen zeigen wollte – deshalb war er nach Köln gekommen. Doch die Chemie zwischen den beiden – das spürte Patterson gleich – stimmte nicht.
Noch am selben Tag lernte er dann John Cage kennen. Im Atelier von Mary Bauermeister gab es ein Antikonzert ge­gen die zeitgleich in Köln stattfindenden IGNM-Weltmusiktage. Das hatte Patterson irgendwo aufgeschnappt und ging dorthin. Prompt kam er mit Cage, den er nur vom Hörensagen kannte, ins Gespräch. Der fragte ihn, ob er auch etwas aufführen wollte, und Patterson sagte: Ja. Seither – by chance or accident – gehört er zum intermedialen Personal, ist einer der Fluxus-Gründerväter 1962 in Wiesbaden, wo er seit einigen Jahren auch (wieder) lebt. Zwischenzeitlich, von 1966 bis in die 1980er Jahre hinein, arbeitete Patterson in New York, u. a. als Kulturchef der Stadt, als Kunstprofessor, als Bibliothekswissenschaftler. Vielleicht nahm ihn die Musikszene deshalb bisher nicht so recht wahr. Pub­likationen zu seinem Œuvre gab es bisher kaum; seine auf CDs dokumentierte Musik ist eher in kunstaffinen Labels erschienen, und die Festivals aktueller Kunstklänge übersehen ihn und seine Werke meist.
Umso bedeutsamer ist der von Benedikt Stegmayer kompilierte Foliant mit über achtzig event scores, die Patterson zwischen 1960 und 1966 sowie von 1987 bis 2012 komponiert und in verschiedenen Schriftformen (meist grafisch oder als Text) fixiert hat, sodass sie auch von anderen realisiert werden können (und sollen). Diese nun zu kennen, ergänzt die gängigen Avantgardegeschichtsskizzen um einen weiteren ästhetischen Pfad und erweitert das Repertoire um amüsante, parodistische, doppelbödige, kluge, mithin «stachelige» Stücke.
Düsseldorf und Köln – in der erstgenannten Stadt ließ Patterson, der zeitweise in der zweitgenannten wohnte, 1960 in einem Park Ameisen minutenlang über ein Blatt Papier laufen. Dann fotografierte er das Geschehen und formte daraus das Klavierstück Ants (für ein bis zwölf Pianisten), eine feine grafische Partitur mit etlichen verbalen Spielanweisungen. Es ist das älteste Werk in diesem schwergewichtigen Notationsfolianten, für dessen gelungene Edition mit so mancherlei Überraschung man sich nur bedanken kann.

Stefan Fricke