Kagel, Mauricio

Exotica

Dokumentation von Rainer Römer und Axel Fuhrmann

Verlag/Label: Ensemble Modern Medien, EMDVD-003
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 76

Bei der Uraufführung, die im Rahmen des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 in München stattfand, löste Mauricio Kagels Ensemblestück Exotica einigen Wirbel bei der Kritik aus. Man warf dem Komponisten kulturellen Kolonialismus und eine Gaudi auf Kosten der Kulturen der Dritten Welt vor; mit der bewusst ungelenken Verwendung von Ethnoinstrumenten profitiere er auf wohlfeile Weise von deren vitalem Potenzial, um seine Avantgardisten-Originalität ins beste Licht zu rücken. Es ging um grundsätzliche Probleme der Interkulturalität, die damals ins Blickfeld geriet. Kagel selbst war am Streit nicht ganz unschuldig, denn die notorische Ironie und die semantischen Spielereien, die damals seine Partituren beherrschten und häufig ge­nug approbierte kulturelle Grundwerte der Lächerlichkeit preisgaben, leisteten Missverständnissen Vorschub. Das Cover der ungefähr zeitgleich bei der Deutschen Grammophon erschienenen LP zeigte zu­dem die Interpreten und den Komponis­ten als halbnackte Wilde mit erfundener Kriegsbemalung auf Oberkörper und Gesicht. Das machte den Witz auch nicht lus­tiger.
Der postolympische Shitstorm ist Geschichte, und heute hat sich weitgehend die Deutung durchgesetzt, es handle sich bei Exotica um eine Kritik an den eigenen europäischen Wahrnehmungsmodi. Also keine Karikatur des guten Schwarzen, sondern eine Selbstkritik des bösen Weißen. Die Polyvalenz von Kagels Ironie macht’s möglich. In einer DVD des Ensemble Modern über Exotica wird diese Sicht mit guten Argumenten untermauert, wenn auch ein Rest Unbehagen nicht ausgeräumt werden kann. Doch lassen sich die Streitpunkte wohl nie ganz bereinigen, und deshalb ist es nachvollziehbar, dass die Herausgeber die ideologiegeladene Auseinandersetzung nicht noch einmal aufwärmen wollten.
Es geht dem Ensemble Modern bei der Auseinandersetzung mit diesem Werk vielmehr um ganz pragmatische Gesichtspunkte, und das hat mit dem Zweck der Veröffentlichung zu tun. Die DVD ist nämlich ausschließlich zu Lehrzwecken bestimmt und kann nur von Hochschulen, Konservatorien, Schulen und ihren Lehrenden gegen Vorlage eines entsprechenden Nachweises kostenfrei bezogen werden. Im Zentrum der Dokumentation stehen Fragen zur musikalischen Gestaltung und zur Interpretation. Die Musiker des Ensemble Modern erläutern die Partitur und beschreiben die instrumentalen Anforderungen des Werks. Das vermittelt sich besonders anschaulich in der Probenarbeit mit den Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie. In Einzelproben mit den sechs jungen Musikern werden Auswahl und Benutzung der Instrumente, Notationsfragen und Spieltechniken in Wort und Bild detailliert dargestellt. Die Umstände der Uraufführung von 1972 werden nicht verschwiegen. In ausführlichen Gesprächen mit dem Ensemblemitglied Rainer Römer geben der Kagel-Fachmann Werner Klüppelholz und der Uraufführungsinterpret Wilhelm Bruck Auskunft über die damaligen Schwierigkeiten der Einstudierung und Aufführung, und auch die problematische Rezeption kommt zur Sprache.
In der mit hoher Sachkunde realisierten Werkmonografie wird das Stück nicht nur nach allen Seiten hin diskutiert und analysiert, sondern es ist auch in zwei unterschiedlichen Interpretationen zu erleben: einmal mit dem Ensemble Modern und einmal mit den Studierenden der Internationalen Ensemble Modern Akademie. Der lebendige Einblick in die Werkstatt des Interpreten ist für den praktischen Musikunterricht von großem Nutzen und darüber hinaus ein Gewinn für jeden interessierten Musikhörer.

Max Nyffeler