Kourliandski, Dmitri

falsa lectio

Verlag/Label: Fancymusic FANCY024
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Dmitri Kourliandski beschreibt seine Kompositionsweise, als würde er im Instrument und aus diesem heraus arbeiten. Er betrachtet jeden einzelnen Bestandteil des Instruments als einen eigenständigen Klangkörper, der separat bedient werden kann: Klappen und Mundstück der Bassflöte, der Korpus der Violine, Lippen, Zähne, Zunge und Rachen der Sängerin. Unter dieser Prämisse geraten Randbereiche der herkömmlichen Klangerzeugung in den Vordergrund und der ordinario-Klang wird vollständig durch Geräuschhaftes ersetzt. Richtiger ist: Er scheint sich aufzufächern und in seinem Inneren erfahrbar zu werden. Anders hingegen als in der Musik Helmut Lachenmanns, deren Idiom durchaus verwandt ist, spielen bei Kourliandski traditionelle Formen keine Rolle. Die Strukturen entwickeln sich «natürlich» aus dem vorhandenen Material, ähnlich wie fließendes Wasser, das sich vermeintlich intentionslos, aber beharrlich seinen Weg bahnt. Dazu gehört, dass im Laufe der Stücke selten neues Material exponiert wird, sondern der spärliche Grundvorrat an Tönen, Geräuschen und Aktionen sich im Verlauf immer wieder – quasi wie von selbst – neu kombiniert.
«Objektive Musik» nennt Kour­liandski das Ergebnis, das man sich im Falle der CD-Aufnahme am besten über Kopfhörer zu Gemüte führt. Die Werke wurden alle mit Mikrofonen aufgenommen, die maximal nah an der Stelle der Klangerzeugung positioniert waren. «Thus we tried to gain the effect of entering the instrument, entering the sound anatomy», so Kourliandski im Book­let-Text. «This effect permitted us to open up lots of hidden noises which are usually swallowed down by the concert hall acoustics.»
Und der gewünschte Effekt stellt sich ein: Die Multiphonics im ersten Satz von FL [falsa lectio] #2 für Bassflöte sind in ihrem ganzen klang­farblichen Spektrum hörbar. Dass sie lange ausgehalten werden, unterstützt die Wirkung noch, macht das Stück aber für Interpret wie Hörer schon nach kurzer Zeit zu einem wahren Kraftakt, der enorme Konzentration erfordert. Im zweiten Satz des Titelstücks mischen sich mit Klappen­geräuschen und tonlosen Luftstößen zwei perkussive Elemente ins Bild, die die Musik in der oben beschriebenen Art strukturieren – im Sin­ne einer organischen, gewachsenen Struktur, die nichts mit artifizieller Schematik zu tun hat. Im Werk Shiver für Akkordeon wähnt man sich zunächst mit elektronischen Klängen konfrontiert, während vibrierende Bordunklänge vor dem Hintergrund knarzender Geräusche und wechselnder Obertöne mitunter rasend schnell an- und abschwellen.
Es steht außer Frage, dass eine Verknappung der Ausdrucksmittel in Kourliandskis Kompositionen keineswegs eine Reduktion an Intensität oder gar Gehalt bedeutet. Vielmehr lenken die wenigen exponierten Klangereignisse eine forcierte Aufmerksamkeit auf all das, was üblicherweise in den Randbereichen des Gewohnheitshörens liegt, und erschließen somit tatsächlich Unerhörtes.

Patrick Klingenschmitt