Chin, Unsuk

Fantaisie mécanique / Xi / Akrostichon-Wortspiel / Double Concerto

Verlag/Label: Kairos 0013062KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 97

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

«Traumerlebnisse haben existenzielle Bedeutung für mich […] Diese Visionen, die von immensem Licht und unwahrscheinlicher Farbenpracht begleitet sind, versuche ich in einer Musik zu reflektieren, die durch den Raum fließt und gleichzeitig eine plastische Klangskulptur bildet.» So äußert sich die aus Seoul stammende, aber vielfältig auch im deutschen Musikleben verankerte Musikerin Unsuk Chin, die unter anderem mit ihrer 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland große Aufmerksamkeit fand. Dieser Stoff, den sie von ihrem Lehrer Györgyi Ligeti gleichsam erbte, hatte jedoch bereits eine der ersten Arbeiten Chins inspiriert, mit der sie in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Ihr Akrostichon-Wortspiel von 1991, auf der vorliegenden CD-Neuveröffentlichung in einer Live-Aufnahme von 2004 präsentiert, greift ebenfalls Lewis Carrols Wunderland-Stoff auf, zusammen mit Michael Endes Unendlicher Geschichte, und entführt den Hörer in Märchenwelten.
Faszinierend ist es, wie die Komponistin hier die menschliche Stimme in ein vielfältig schillerndes Geflecht von Streicher-, Bläser- und Schlagzeugklängen als eine Art Zusatzinstrument einbettet, wobei der Textgehalt in den Hintergrund tritt, während Silben und Laute unmittelbar Musik werden. Die ?Sopranistin Piia Komsi bewegt sich in dem weiten Spektrum an Stimmlagen und Artikulations­arten zwischen Singen, Sprechen und Flüstern mit einer Wendigkeit, die ein wenig an diejenige der unvergessenen Cathy Berberian erinnert. Finsteres Raunen und die Kindlichkeit eines Abzählreims, exaltiert flackernde Fiorituren und ruhige, dreiklangstrunkene Suche nach der guten alten Märchenzeit bilden die Grenzmarken ihrer Interpretation.
Die Inspiration durch den Traum steht für Unsuk Chin nicht im Widerspruch zu einem deterministischen Vorgehen: In der Fantasie Mécanique für fünf Instrumentalisten folgt der Aufbau der gesamten Struktur «einer sehr strengen Konstruktion mit der Intention, trotzdem wie improvisiert zu wirken». Wie die Fantasie Mécanique entstanden auch die beiden weiteren auf dieser CD eingespielten Werke Unsuk Chins für das renommierte Pariser Ensemble Intercontemporain. In Xi, was im Koreanischen die kleinste Einheit der Dinge bezeichnet, versucht Unsuk Chin instrumentale und elektronische Klänge völlig zu verschmelzen. Die Keimzelle des Stücks bilden verfremdete Anblasgeräusche, die sich dann immer weiter mit realen Instrumentalklängen vernetzen, bis ein chromatisches Total von schnell rotierenden Tonsplittern erreicht wird, wonach eine überraschende Reprise des Anfangszustands stattfindet.
Im Zeichen der Vereinheitlichung steht auch das DoubleConcerto von 2002 für präpariertes Klavier, Schlagzeug und Ensemble. In ihm geht es weniger um das «concertare» im Sinn eines Wettstreits als um das «conserere», das Ineinanderverweben der Klänge, wobei in der Ineinanderverblendung aller verschiedenen Klangquellen Texturen entstehen, die des Öfteren an indonesische Gamelanmusik erinnern.
Gerhard Dietel