Feedback Studio Köln

Klavierwerke von Klarenz Barlow

Verlag/Label: Cybele Records SACD 960.308
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 85

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

 

Nach Jahren rigoroser Reinigung des Materials von historischen Besetzungen wurde in den 1970er Jahren selbst das Unmögliche einfach wieder gemacht. So verband der 1945 in Kalkutta als Kind der englischsprachigen indischen Minderheit geborene Klarenz Barlow in seinem 1974 begonnenen Klavierzyklus Ludus ragalis indische Ragas mit europäischen Kirchentonarten, barocken Formen und Satztechniken zu 13 im Quintenzirkel
absteigenden Präludien und Fugen, deren vordergründig akademisch-historisierende Themenbildung und Kon­trapunktik unvermutet von eigen­willigen Wendungen und Kadenzen durchkreuzt werden. Die jeweils kaum einminütigen Stückchen spielt Hermann Kretzschmar mit eben der lapidaren Klarheit, welche diese seltsam fremd-vertraute Polyphonie verlangt.
Nachdem Barlow 1968 zum Studium bei Bernd Alois Zimmermann und Karlheinz Stockhausen an die Kölner Musikhochschule gekommen war, begann er seit 1971 mit dem Computer zu arbeiten. Er verwendete den Prozessor jedoch nicht zur Klangsynthese, sondern lediglich als Organisations- und Steuerinstrument. In … or a cherish’d bard … nutzt er nur ein auf die musikalischen Buchstaben des Vornamens der Pianistin und Widmungsträgerin DEBorAH Richards reduziertes, minimalistisches Tonmaterial. Indem das Dreitonmotiv des Namensanfangs jedoch mittels eines auf binären Strukturen basierenden Algorithmus zum Zweitonmotiv des Schlusses transformiert wird, entstehen äußerst komplexe tonale, rhyth­mische Überlagerungen. Ganz anders dagegen die Estudio Siete (Studie Sieben), zu deren flirrend schnellen Repetitionen – wie sie nur ein mechanisches Selbstspielklavier leisten kann – eine zarte und rhythmisch eigenwillig verhuschte, aber gerade darum umso präsente Habanera tritt.
Für das halbstündige Çogluotobüsisletmesi berechnete der langjährige Professor für Komposition und Sonologie am Königlichen Konser­vatorium Den Haag 1978 sämtliche Tonfolgen, die sich ergeben, wenn einzelne Töne auf einem Klavier einen Viertelton herabgestimmt werden. Es resultieren statistisch wechselnde Dichte- und Dissonanzgrade zwischen den Gegensatzpolen tonal – atonal, metrisch – ametrisch, ereignisreich – ereignisarm, laut – leise etc. Zuweilen kommt es zu einfachen Lied- und Tanzelementen. Da sich diese teils zu extremen Tonballungen verdichten, wurde eine Überarbeitung für vier Klaviere und vier Pianisten nötig. Anlässlich Barlows 60. Geburtstag wurde diese Neufassung beim «Forum Neuer Musik» des Deutschlandfunks Köln 2006 noch unter der Leitung des vor wenigen Monaten verstorbenen James Avery uraufgeführt. Nicht auf der CD enthalten sind leider die damals ebenfalls gespielten Variazioni e un pianoforte meccanico, wo die einsetzende Selbstspielmechanik nach und nach dem Pianisten die Klaviatur unter den Fingern wegzieht.

Rainer Nonnenmann