Rihm, Wolfgang

Fetzen

Verlag/Label: Winter & Winter, W&W 910 178-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 90

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Eine Folge kleiner Stücke von zwei bis fünf Minuten Dauer schrieb Wolfgang Rihm in den Jahren 1999 bis 2004 teils für Akkordeon, teils für Streichquartett, oft genug aber auch für die eigenwillige Kombination beider. Für diese Bagatellen schien ihm die Bezeichnung Fetzen passend, denn es handle sich dabei um «Teile, Ausrisse, Stückchen, Ausgefranstes, Unvollständiges (sei es unfertig, sei es zerrissen). So, in der Art. Dann gibt es noch das Verb ‹fetzen›, eher umgangssprachlich deutete es – auf Musik bezogen – an, dass es manchmal ‹fetzig› zugeht, rasch, gerissen, bissig vielleicht – was weiß ich. Wir stapfen also durchs Gärtlein stachlichter Kleinpflanzen.»
Ein «Sträußlein derselben» erklingt auf der vorliegenden CD in einer Interpretation des Arditti-Quartetts und des auf die Gegenwartskunst spezialisierten Akkordeonisten Teodoro Anzellotti: als eine stets impulsiv angetriebene, von Willen erfüllte Musik mit scharfen Ecken und Kanten, wo noch in den wenigen ruhigeren Abschnitten nicht wirklich Friede herrscht, sondern der nächste eruptive Ausbruch sich bereits lauernd ankündigt.
Typisch für Wolfgang Rihms Komponierprozess ist es, dass für ihn das einmal Formulierte nicht abgetan ist, sondern als wuchsfähiger Keim später neu austreibt, wobei die ursprüngliche Komposition in ihrer zeitlichen Ausdehnung weiter entwickelt oder mit neuen Schichten überlagert wird. Aus Fetzen 1 von 1999 formte Rihm im Auftrag des «Premio Borciani» im italienischen Reggio Emilia sein 12. Streichquartett, das dann von dortigen Wettbewerbsteilnehmern zur Uraufführung gebracht wurde. Fetzen 1 wird, nach einer klanglich ganz sparsamen Einleitung, in seiner originalen Gestalt in das Quartett hineingeholt, dann weiterentwickelt und dabei quasi übermalt, bevor die Musik wiederum ganz zurückgenommen ausklingt.
Mit diesem Quartett war die Grundidee für Rihm offenbar immer noch nicht am Endpunkt ihrer Entfaltungsmöglichkeiten angelangt. Sie bildete in einem Prozess, in dem die Idee des fertigen Werks hinter die offene Suche nach dessen Gestalt zurücktritt, wiederum den Ausgangspunkt für ein weiteres Werk: das im Rahmen von «Wien Modern 2002» durch Siegfried Mauser und das Minguet Quartett erstmals präsentierte Klavierquintett Interscriptum, dessen Wiedergabe durch das Arditti Quartett und den Pianisten Nicolas Hodges die vorliegende CD-Einspielung abrundet. Der gesamte Notentext der Streicher fand unverändert in das neue Quintett Eingang, der in einer Art Diskurs vom Klavier durch sein «Hineinschreiben» – wie der neue Titel wohl zu übersetzen wäre – kommentiert wird, weswegen Wolfgang Rihm im Untertitel das Werk auch als «Duo für Streichquartett und Klavier» bezeichnete.
Hinzugewonnen werden dem 12. Streichquintett in dieser Erweiterung nicht nur neue motivische Korrespondenzen, sowohl Reaktionen als auch Antizipationen des Pianisten. Vor allem weitet sich der Klangraum, wenn der Klavierpart höhere und tiefere Register erschließt oder mit Pedaleffekten neue Farben hinzufügt.

Gerhard Dietel