Carter, Elliott

Figments and Fragments

Chamber Music by Elliott Carter

Verlag/Label: 2L 54
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Ist das nicht beispielhaft? Der Solo­cellist des Osloer Philharmonischen Orchesters nutzt ein zweijähriges Arbeitsstipendium, das der norwegische Staat jüngeren, «neu etablierten» Künst­lern zukommen lässt, um zusammen mit befreundeten Instrumentalisten dem greisen Komponisten Elliott Carter zum 100. Geburtstag zu huldigen: mit einer Blütenlese seiner Kammermusik. «Seine Musik spiegelt nicht nur ein langes Leben», schreibt Johannes Martens dazu. «Sie gibt uns auch eine Perspektive auf die Zeit, in der wir leben.»
Sieben wunderbare Musiker versammelt die in Norwegen produzierte CD Figments and Fragments. In wech­selnder Gruppierung oder auch allein, gleichermaßen beseelt von der Lebensleistung des Amerikaners, versenken sie sich in zehn seiner Werke. Sie umspannen ein halbes Jahrhundert seines reichen kam­mermusikalischen Schaffens. Die Hälf­te dieser Stücke entstand in Car­ters Achtziger-Lebens­jahren oder später. Das jüngste Werk – Figment (Fantasiegebilde) No. 2: Remembering Mr. Ives für Violoncello solo – datiert von 2001 (als Carter 92 Jahre alt war). Über fünfzig Jahre trennen es von Stücken wie Elegy oder der Sonate für Violoncello und Klavier. Trotz merkbarer Veränderungen in Stil und Methode bleibt die künstlerische Grundhaltung die gleiche. Mit den Worten des schottischen Komponisten Stuart McRae im Booklet: «Radikal und selbstständig in Geist und Ausdruck». Wiewohl die jüngeren Werke des Älteren flüssiger wirken, mit leichterer Hand geschrieben. Umso größer die Herausforderung für die Interpreten. Ist in der Kunst doch nichts so schwer wie das Leichte.
Die 1948 entstandene Sonata for Violoncello and Piano in vier Sätzen nimmt eine Schlüsselrolle in Carters Kammermusik ein: als «entdeckerische» Arbeit eines gereiften und seiner Mittel sicheren Meisters. Am Werkbeginn nimmt er sich rhythmisch die Freiheit eines Jazzpianisten, der improvisierend auf einem walking bass jongliert. Die Enchanted Preludes für Flöte und Violoncello, 1988 geschrieben, lassen sich vielleicht als «Landmarke» einer neuen Schaffensphase hören und lesen (wiewohl es schwerfällt, bei Carter von Altersstil zu re­den). Aus intellektueller Verspieltheit wird eine wesenhafte Leichtigkeit des Seins. Siehe Carters Huldigung an seinen Freund Witold Lutos«awski für Klarinette solo, die den polnischen Titel Gra (Spiel) trägt: kapriziöses Linienspiel in fortwährender Verwandlung. Der Titel des Klarinettentrios Con leggerezza pensosa (Mit nachdenklicher Leichtigkeit) – Hommage an den Dichter Italo Calvino – kennzeichnet Carters Ästhetik ebenso wie den Musiziergeist der fabelhaften Musiker.

Lutz Lesle