Becker, Peter

Finis. Non finis …

Von Schütz bis Kagel. Texte zur Musik und ihrer Vermittlung

Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 89

Der Titel ist Programm: Kunst bleibt für Peter Becker «unausstaunlich», eine «endlose Geschichte», deren Vermittlung gerade dann am tiefgreifendsten gelingt, wenn sie mit Fragen endet. Tatsächlich findet der voluminöse Sammelband über Musik von der Antike bis zur Gegenwart auf Seite 556 nur ein willkürliches, also kein Ende und scheint der darin geöffnete Horizont an philosophie-, literatur-, kunst-, geistes- und kulturgeschichtlichem Wissen unbeschränkt. Stets im Detail exakt bei den Dingen, erhellt das Beschriebene zugleich wie ein Kugelblitz epochale und überhistorische anthropologische Zusammenhänge. So reichen Verbindungen des Motivs «Tod und Auferstehung» von Bach über Haydn bis zu Klaus Huber und Stockhausen und wird die Erörterung des Begriffs «neu» zu einer kleinen Geschichte des Abendlandes. Histo­rische Erkenntnis macht die Kunstwerke als «verdichtete menschliche Erfahrung» begreifbar und trifft damit den Leser im Hier und Jetzt.
Die Komponisten, Themen- und Fragestellungen, die der langjährige Ordinarius und Leiter der Abteilung Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater Hannover behandelt, sind denkbar vielfältig und lassen doch klare Schwerpunkte und Linien erkennen. Für einen Musikpädagogen und Musikwissenschaftler seiner Generation – der dieses Jahr seinen 75. Geburtstag feiert – widmet sich Peter Becker mit erstaunlicher Offenheit, Informiertheit und für Verunsicherungen sensibilisierter Vertrautheit der neuen Musik. Noch wertvoller als seine entschiedene, geradezu bekenntnishafte Suche nach (Selbst-)Erkenntnis in Musik von Webern bis Rihm ist seine ansteckende Neugierde und Begeisterung für jede Art von «Kunst als existenzieller Herausforderung», wie Helmut Lachenmann im Geleitwort über den Freund und «sinnverwandten» ehemaligen Hochschulkollegen schreibt.
Thematisch geordnet sind die vierzig Texte aus 25 Jahren in fünf Abteilungen: Den Anfang machen grund­­legende Reflexionen zu Sinn und Chancen von Musikdidaktik. Becker nutzt sie zu eindringlichen Plädoyers für intensive Vergegenwärtigung und persönliche Erfahrung anstelle von schneller Belehrung durch «Vertrautmacher». Es folgen Begegnungen mit dem Fremden in neuer wie alter Musik, mehrere Werkporträts, Aufsätze zum gewandelten Verhältnis von Musik und Sprache sowie Analysen neuerer geistlicher Werke. Zur Gedankenfülle der Texte trägt bei, dass sie auch andere Autoren teils ausgiebig in Zitaten zu Wort kommen lassen und Becker nicht nur mit, sondern auch in der Sprache denkt. So lässt er Kunst den Zugang zum «Unverwohnten» öffnen und den Hörer erleben, dass seine vor­geprägte Wahrnehmung eigentlich «Falschnehmung» ist, während es da­­rum geht, Beethovens «Neunte» wieder als «Beethovens Neue» zu erleben. Zahlreiche Abbildungen, Notenbeispiele sowie Personen- und Werk­register vollenden das lesenswerte Vermächtnis des großen Musikdenkers und Lehrers.

Rainer Nonnenmann