Surman, John

Flashpoint

NDR Jazz Workshop – April ’69, CD + DVD

Verlag/Label: Cuneiform Records RUNE 315/316
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 81

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 3
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Dies ist eine historische Aufnahme, aber man merkt es ihr kaum an. Oder genauer gesagt: Man hört es ihr, abgesehen vom Mono, kaum an. Zu sehen sind die vierzig Jahre schon – auf der beiliegenden DVD, auf der dasselbe zu hören ist wie auf der CD, nur dass wir den zehn Herren beim Musikmachen auch noch zusehen dürfen.
Das Fernsehstudio besitzt den Charme eines leergeräumten Wohnzimmers. An der Garderobe hängen die Mäntel der Musiker, als wären sie gerade von der Arbeit gekommen. Das Ensemble ist in zwei Hälften geteilt. Im Halbrund aufgereiht sitzen auf der einen Seite die Bläser, ihnen gegenüber das Piano, der Bass, das Schlagzeug – eine ungewöhnliche Raumanordnung, in der die Hierarchien des Orchesters eingeebnet sind, aber die klassische Rollenverteilung der Instrumentengruppen umso deutlicher zutage tritt. Die Musiker sind ihr eigenes Pub­likum. Ernst und hochkonzentriert geht es zu, trotz oder gerade wegen der wuchtigen Kameras, die sie permanent umkreisen. Es wird viel geraucht, aus großen Flaschen werden Getränke zu sich genommen, zwischen den Stücken – es sind Probeaufnahmen – wird nur das Nötigste kommuniziert, das meiste sitzt bereits perfekt. Hier sind professionals am Werk, denen es gelingt, ziemlich unbewegt bewegende Musik hervorzubringen.
Die meisten der Instrumentalisten – Alan Skidmore, Mike Osborne, Malcolm Griffith, Harry Miller, Alan Jackson und nicht zuletzt John Surman, der bis dahin hauptsächlich als Sideman Aufnahmestudios betreten hatte – standen 1969 noch am Anfang ihrer Karriere. Kenny Wheeler und Ronnie Scott, die Ältesten im Halbrund, waren zwar schon länger im Geschäft, aber den Durchbruch erlebten auch sie erst, als sich in England zusammenbraute, was als britische Avantgarde Geschichte schreiben sollte. Allesamt – das gilt auch für die beiden Gäste aus Österreich: Fritz Pauer und Erich Kleinschuster – verkörpern den sanften Flügel unter den damaligen Pionieren, eine Spielart, die keinen Grund sah, mit dem Herkömmlichen zu brechen.
Für den moderaten Ton unter den Avantgardisten ist diese erstmals zugänglich gemachte Produktion ein schönes Beispiel. Die Kompositionen liegen exakt auf der Schwelle zwischen Konvention und Innovation, wobei die hergebrachten Muster und Motive nicht weniger einfallsreich intoniert werden als die gekonnten Ausbrüche aus den Repertoirevorgaben.
Surman ist bekannt geworden für sein feines Melodiegespür. Er bewegt sich mit Vorliebe auf tonalem, rhythmisch gebundenem Terrain. Das war von Anfang an der Fall. Aber er ist nicht nur ein kluger Komponist, sondern auch ein blendender Saxofonist. In Pauers Gratuliere, das sich an My Favorite Things anlehnt, oder in seinem eigenen Mayflower etwa glänzt er auf dem Sopransaxofon, in anderen Stücken auf dem Bariton.
Gegen Ende stößt das Ensemble kurz das Tor zur Freiheit auf. Surmans Flashpoint beginnt als turbulenter Free Jazz. Aber dabei bleibt es nicht. Freie, ungelenkte Improvisation war und ist für Surman kein Ziel, nichts, was er um ihrer selbst willen betreiben würde, sondern allenfalls eine Option, ein Ausgangspunkt.
Timo Hoyer