Werke von Luciano Berio, Farangis Nurulla-Khoja, Vito Žuraj, Marta Gentilucci, Mariana Ungureanu, Marko Nikodijevic und Jamilia Jazylbekova

Folk Songs

Verlag/Label: NEOS 11316
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 83

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 2

Neue Musik und Folklore? Was auf den ersten Blick wirkt wie eine Kontradiktion, entpuppt sich in so manchem Fall als gelungene Kombination. Unter dem Titel Folk Songs ist bei NEOS Music eine spannende CD erschienen, die nicht nur Luciano Berios gleichnamige kunstvoll-klangorientierte Volksliedvertonungen für Mezzosopran und sieben Instrumente aus dem Jahr 1964 beinhaltet, sondern auch neue Werke jüngerer zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten.
Während der Serbe Marko Nikodijevic durch Integration eines bulgarischen Volkslieds in sein prituri sà planinata/plac?, tmina, odjek (Berg verschüttet/Weh, Finsternis, Echo; 2013) noch am Engsten an der Ästhetik Berios orientiert ist, bestechen die meisten anderen Kompositionen vor allem dadurch, dass die folkloristischen Traditionen eher aus der Ferne und ohne Anflug von Kitsch betrachtet werden. Wie etwa in Zgübleni (Die Verlorenen) für Mezzosopran, Ensemble und Live-Elektronik (2010/ 11) von Vito Žuraj, der sich eher assoziativ slowenischer Trauermusik nähert und zugleich einer fast vergessenen Vokaltradition aus der Region Prlekija, die in elektronischen Zuspielungen präsent ist. Auch Marta Gentiluccis … tutt’occhi für Alt, Ensemble und Live-Elektronik (2010/ 11), das sich auf das Gedicht Respiro di mandorla (Mandelatmen) von Elisa Biagini bezieht, erinnert eher an Vokallinien Salvatore Sciarrinos als an Volksmusik. In beiden Werken rücken live-elektronische Verfremdungen jeden Hauch von falschgewordener Folklore fern.
Obwohl stärker an den ursprünglichen Klängen der traditionellen Mu­sik ihrer Heimat orientiert, überzeugt auch S.O.G. für Stimme, Ensemble und Live-Elektronik (2012) von der kasachischen Komponistin Jamilia Jazylbekova. Das Stück basiert auf Texten aus einem ukrainischen Wiegenlied, doch werden diese auf multifunktionale Weise eingesetzt: mal umrankt von sirrenden Ensembleklängen, mal guttural verfremdet durch die expressiv eingesetzte Singstimme – ein vielschichtiges Stück, das durch seine vokalen Grenzgänge mit einem Mal schmerzlich klarmacht, dass ein unvermittelter Blick auf die lokale Tradition in dieser Region wohl kaum noch möglich ist.
In der Altistin Noa Frenkel besitzt diese Aufnahme eine vielseitige, dunkel timbrierte Solistin, die den vokalen Experimenten mancher Stü­cke auch den nötigen emotionalen Impact verleiht. Nur Berios Folk Songs gerieten etwas zu monochrom. Das Ensemble Experimental unter der Leitung von Detlef Heusinger ist ein verlässlicher Begleiter auf dieser klug konzeptionierten CD, die auch durch die brillante Technik des SWR und seines Experimentalstudios punktet.
Reinhard Kager