Demuth, Marion / Jörn Peter Hiekel (Hg.)
Freiräume und Spannungsfelder
Reflexionen zur Musik heute
«was tun? was jetzt? was hat noch keiner komponiert? welche marktnische ist ungenutzt? was ist substanziell und zukunftsträchtig oder auch nur der trend? wohin will oder soll die neue musik?» So fragt Mathias Spahlinger freilich in parodistischer Affirmation der Bedürfnisse bürgerlicher Musik-Kultur in seinem Essay «dies ist die zeit der konzeptiven ideologien nicht mehr», der nach neuen Sprachmöglichkeiten einer in die Jahre gekommenen «neuen Musik» in Anknüpfung an alte Avantgarde-Tugenden sucht. Zumindest letztere der zitierten Fragen ist wenn auch oft unausgesprochen aus dieser ertragreichen Veröffentlichung immer wieder herauszulesen. Schließlich nahm das Kolloquium «Freiräume und Spannungsfelder» im Rahmen der 20. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik die verworrene Situation der Gegenwartsmusik ins Visier, als Kooperation vom Europäischen Zentrum der Künste Hellerau und dem Institut für neue Musik der Hochschule für Musik Dresden.
Quo vadis neue Musik zwischen «anything goes» und ästhetischer Relevanz, künstlerischem Anspruch und sozialer Realität (= Kommerzialisierung bzw. Marginalisierung)? Natürlich kann und darf es keine eindimensionale Antwort auf diese Frage geben. Deshalb enthält diese Publikation denn auch ausgewiesenermaßen «Reflexionen» (und nicht etwa «Positionen») und öffnet eher assoziativ denn verbindlich ein ideologisch (weitgehend) freigeräumtes «Spannungsfeld», dessen unterschiedliche Betrachtungsweisen der «Neuen Unübersichtlichkeit» ihres Gegenstands in nichts nachstehen: Texte zwischen analytischer Erörterung, grimmiger Polemik und konkreter Projektbeschreibung, für die (Musik-) Wissenschaftler ebenso verantwortlich zeichnen wie Komponisten und Regisseure.
Damit die immerhin 18 gänzlich unterschiedlichen Erfahrungshorizonten entspringenden Beiträge nicht vollkommen aneinander vorbeitexten, haben Marion Demuth und Jörn Peter Hiekel aus der (gewollten) Vielfalt der Ansätze drei größere thematische Bündel zusammengeschnürt. Als komplexe «Situationsbeschreibung» wird einleitend das gegenwärtige Dilemma der neuen Musik im Antagonismus von totaler Freiheit und gesellschaftlicher Instrumentalisierung erörtert, nimmt man alle Beiträge zusammen, durchaus suggestiv und anregend. Besonders erwähnenswert hier die kritische Bestandsaufnahme von Rainer Nonnenmann («Die Ästhetik des Anästhetischen»), der einen erfrischend kritischen Blick auf den Betrieb wirft, und zwar auf den Neue Musik-Betrieb und seine monadischen Strukturen. Zentraler Gedanke: «Musik ist keine der Gesellschaft enthobene Sondersphäre, sondern ein ausgezeichnetes Medium der in- und extensiven Welt- und Selbsterfahrung.» Deshalb müsse die Gegenwartsmusik raus aus der Nische und Chancen für Differenz-Erfahrungen bieten, wobei auch das Defizitäre und «Anästhetische» neue Räume erschließen kann.
Ein gesteigertes Maß an Selbstreflexivität auf der einen, vielschichtig verlinkte Beziehungen zu außermusikalischen Wirklichkeiten in Form von Gesellschaftskritik, Institutionenkritik und Werkkritik auf der anderen Seite sind die aus zahlreichen Beiträgen herauszulesenden Forderungen, um hüben wie drüben Wahrnehmung zu sensibilisieren und Musik als Kunst ins 21. Jahrhundert zu transportieren. Dies wird in Spahlingers Plädoyer für ein Komponieren als permanente Arbeit am ästhetischen Bewusstsein ebenso deutlich wie in Harry Lehmanns Blick auf «Die Avantgarde als Nullpunkt der Moderne». Ein Beispiel dafür, wie es funktionieren könnte, ist Clemens Gadenstätter, der in «Semantical Investigations» die Tür zu seiner kompositorischen Werkstatt weit aufmacht und sein Komponieren vor allem auf eine transformative Bearbeitung von Klang-Signalen gründet, um durch die «Sublimierung des Gebräuchlichen» erlebbare Inkongruenzen zu schaffen, die neue Wahrnehmungsräume und Bedeutungsfelder erschließen. Sehr aufschlussreich auch Martin Kalteneckers (Rück-) Blick auf den französischen Spektralismus und seinen momentan interessantesten «Nachfahren»: Hugues Dufourt.
Dass die außereuropäische Musik eine fruchtbare Inspirationsquelle sein kann, um zu neuen Sprachformen jenseits von Avantgarde und Postmoderne zu gelangen, wusste schon György Ligeti heutzutage eine allgegenwärtige und manchmal leichtfertige kompositorische Strategie. Dementsprechend unterschiedlich sind unter der Rubrik «Passagen zwischen den Kulturen» denn auch die Denkansätze und Bewertungen zum Thema. Während Christian Utz in der Analyse exemplarischer Werke systematisch versucht, verschiedene Methoden und Diskurse interkulturellen Komponierens aufzuzeigen (und dabei überraschenderweise weniger auf Verschmelzung denn Konfrontation setzt!), schwadroniert Max Nyffeler in «Der Reiz des Fremdgehens» mit teilweise schwer erträglichen Pauschalisierungen und zweifelhaftem Vokabular gegen die Verlockungen der Fremde und beklagt dabei fehlendes europäisches Selbstbewusstsein als notwendige Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog der Kulturen.
Der dritte große Themenblock widmet sich der Bühne als Ort interdisziplinärer Innovation. Unter dem Motto «Erfahrungs- und Entfaltungsräume im Neuen Musiktheater» fragt Mark Andre nach dem Begriff des dramaturgischen Raums, stellt Regine Elzenheimer ausgewählte (Ver-) Störungen des Musiktheaters vor, gibt Christa Brüstle Auskunft über Bewegungsformen im instrumentalen Theater und Katrin Stöck ganz konkret Einblick in die Konzepte und Realisationsprobleme von Innenräume, einer Kollektivarbeit von fünf Komponisten, die im Rahmen der Tagung in Hellerau uraufgeführt wurde. Raum – Körperlichkeit – Entgrenzung: ein ästhetisches Spannungsfeld, das Martin Zenck anhand einiger Arbeiten von Sasha Waltz (Dido and Aeneas, Körper, noBody) mit besonderer Prägnanz erörtert.
Dirk Wieschollek