Ullmann, Jakob

fremde zeit addendum 4 – solo III für Orgel

Verlag/Label: ed. RZ 1029
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 85

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 1

Werke der neuen Musik bedürfen, um vom Hörer verstanden zu werden, eines ausführlichen Kommentars in Worten. So glauben manche Komponisten, und dieser Auffassung schließen sich die Verfasser von CD-Booklet-Texten mit ihren geschliffenen Essays zum Repertoire der Einspielung oft an. Nichts von alledem begegnet dem Käufer der vorliegenden CD-Neuveröffentlichung, die sich in ihrer äußeren Erscheinung betont karg gibt.
Bilderverbot herrscht auf der Titelseite mit ihrer extrem reduzierten Kalligrafie aus drei kurzen Strichen. Nach einführenden Texten sucht der Käufer im Inneren der CD mangels eines beigelegten Booklets vergebens. Einziger enigmatischer Fingerzeig bleibt ein Zitat aus Nietzsches Also sprach Zarathustra im Inneren der Umhüllung, wo die «heimliche feierliche Stunde» beschworen wird, da «heißer Mittag … auf den Fluren» schläft: «Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen.» Gehört der Text integral zum Werk? Ist er nachträglicher Kommentar, Fingerzeig bei der Rezeption? Das muss der Hörer selbst entscheiden.
Welche Musik verbirgt sich nun hinter all diesen sperrigen Schutzmauern? Eine einzige akustische Eingangspforte lassen sie zu, denn die 66 Minuten umfassende Aufnahme präsentiert sich als ein einziger Track. Dass es sich um eine Komposition Jakob Ullmanns handelt, sein unter dem Obertitel fremde zeit addendum 4 geführtes solo III für Orgel, ist nur der Rückseite des Covers zu entnehmen, in unauffälliger Kleinschrift mehr verborgen denn herausgestellt.
Der Inhalt entspricht an Zurückhaltung der Verpackung. Jakob Ullmann
ist dafür bekannt, dass seine Musik sich gerne am Rand der Hörschwelle bewegt. Die Gebrauchsanweisung für solo III, welches Hans Peter Schulz mit Hilfe von Assistenten an der großen Orgel der Abteikirche Neresheim realisierte, lautet denn auch: «Wählen Sie […] die Einstellung Ihres Abspielgerätes so, dass das Raumgeräusch der Aufnahme gerade verschwindet.»
Diffus in geräuschhafter Tiefe beginnt die Musik, wobei ein eigentlicher Einsatzpunkt kaum auszumachen ist: Es ist, als werde der Hörer in einen laufenden Prozess von kosmischen Ausmaßen eingeblendet. Dieser entfaltet sich in entsprechenden Zeitdimensionen: Mit ganz langem Atem geschehen unmerkliche Wechsel und Neueinsätze von Klangbändern. Über dunklem Hintergrundrauschen ziehen hellere Farbstreifen ihre ruhige Bahn, schwellen behutsam an und erzeugen Schwebungseffekte, wo die Lautstärke in Schwingung gerät, so als empfinge der Lauschende Signale von fernen Pulsaren.
Lange dauert es, bis in dieser extrem statisch wirkenden Landschaft punk­tuelle Ereignisse von kürzerer Dauer vernehmbar werden: einzelne, weitverstreute, schnelle Figuren und kleine motivische Ansätze, die jedoch sofort im Nichts ersterben, als seien hier kurzfristig in einer Art Quantenfluktuation Elementarteilchen entstanden und wieder wie Schaum vergangen. All dies löst keinerlei Formdynamik aus. So unmerklich, wie die Einspielung begonnen hat, so unmerklich entlässt sie den Hörer wieder in die endgültige Stille.

Gerhard Dietel