Luzia von Wyl Ensemble

Frost

Verlag/Label: hatOLOGY 727
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 81

Musikalische Wertung: 3

Technische Wertung: 3

Booklet: 5

Aus einem geräuschhaften Anfang, der den CD-Titel Frost nachzuzeichnen scheint – gehauchte Flötenklänge, Pochen auf dem Flügel … –, treten bald Klavierklänge hervor, die dann mit dem Marimabafon in ein repetiertes Motiv nach Art der Minimal Music einmünden. Darüber legt sich ein jazzig-synkopierter Holzbläsersatz, aus dem einmal ungewöhnlicherweise ein Fagott hervortritt. Nach einer minimalistischen Soloklavier-Kadenz legen Kontrabass und Schlagzeug den Grund für Bassklarinetten- und Klarinetten-Solopassagen mit Einsprengseln weiterer Instrumente. Eine Art Reprise kombiniert alle angespielten Motive noch einmal neu. 
Auf den Spuren eines Gil Evans, aber auch eines Louis Andriessen, überrascht Luzia von Wyl mit ihrem zehnköpfigen Ensemble mit ungewöhnlichen Klangfarben-Orchestrie­rungen, slapstickartigen Läufen und Richtungswechseln, die einen auch bei den repetierten Minimal-Passagen nie ganz sicher sein lassen, was als Nächstes passieren wird. Es fällt schwer, dieser Musik einen Namen zu geben. Sie ist, bei aller jazzartigen Rhythmik und Harmonik, bis auf wenige improvisierte Solos weitgehend durchkomponiert. Die minimalistischen Partien bleiben stets in sich wandelbar und schlagen manchmal plötzlich in etwas Anderes um. Luzia von Wyl scheint die Bestandteile ihrer Musik verschiedenen Baukästen zu entnehmen und besondere Freude daran zu finden, wenn Dinge aufeinandertreffen, die in dieser Kombination sonst nicht zusammenkommen. Da gibt ein rockendes Schlagzeug den Rhythmus vor; auf den Einsatz der Kalimba folgt die Querflöte mit einem unablässig repetierten Motiv, über dem sich Schicht um Schicht weitere Stimmen aufbauen, bis plötzlich der Rhythmus aussetzt und nur noch das Klavier zu lang gezogenen Geigen- und Cellotönen weiterspielt; woraufhin zu ei­nem frenetischen Flötensolo in der Art eines Herbie Mann oder Ian Anderson wieder alle mitspielen. 
So vielseitig die Musik freilich auf den ersten Blick erscheint, so sehr schöpft sie ihr Material doch aus ei­nem begrenzten Fundus rhythmischer Formeln und einer Harmonik, die über den Jazz der 1950er Jahre nicht hinausreicht. Mehr Improvisation, Interaktion und Unvorhersehbarkeit, der Mut zu schrägeren Tönen und vor allem eine größere Variabilität gegenüber der fast immer gleichen Rhythmus- und Tempostruktur hätten der Musik gut getan, die, so frisch und unverbraucht sie am Anfang klingt, von Titel zu Titel mehr und mehr ihre Routinen offenbart und letztlich ein wenig ermüdet. We­der tritt sie jemals aus dem vorgegebenen Taktgerüst hinaus, noch sind harmonische Ausflüge je mehr als Erweiterungen oder Zusätze zu einer unveränderten Basis.
Dass am Ende dann doch noch Violine und Klarinetten in einen im­provisatorischen Dialog treten, kann daran kaum etwas ändern, da dies die zugrunde gelegte Struktur in keiner Weise öffnet. So folgen denn auch noch dreieinhalb lange Minuten, in denen das bereits Angespielte wieder und wieder durchgekaut wird, bis das Klavier solo auf dem einleitend angespielten Akkord endet.
Dietrich Heißenbüttel